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XIII. Internationale Friedensfahrt 1960 <br>Prag – Warschau – Berlin

von torte

 

Der folgende Bericht über die Friedensfahrt 1960 ist Teil einer kleinen Serie über den DDR-Radsport des Jahres 1960

 

Teil 1:   >>> Radsport im "Kalten Krieg" 

Teil 2:   >>> Internationale Friedensfahrt 1960

Teil 3:   >>> Straßenweltmeisterschaft der Amateure 1960

Teil 4:   >>> Olympische Spiele in Rom 1960 

 



der Start

20 Teams aus ganz Europa nahmen an der Friedensfahrt des Jahres 1960 teil, davon kamen 12 aus dem Westen, auch Monaco und die Schweiz waren vertreten, nur Westdeutschland, Spanien und Portugal fehlten. Es waren keine schlechten Radler, der Amateurradsport war in jenen Jahren in Gesamteuropa noch sehr lebendig und leistungsstark.

 

Bei der XIII. Internationalen Friedensfahrt 1960 spielt daher auch ein Belgier eine Hauptrolle: Willy Vandenberghen. Bei diesem Etappenrennen, das in diesem Jahr in Prag gestartet wurde und in Berlin enden sollte, entwickelte er sich vom nachnominierten Fahrer des belgischen Teams zu einem der Protagonisten der Tour. Am Ende stand er als Dritter auf dem Treppchen, und seine Sicht der Dinge schildert er im Buch „Friedensfahrt“, welches 1962 im Sportverlag Berlin erschien. Die folgenden zitierten Passagen sind daraus entnommen, lauschen wir also Willy Vandenberghens Bericht:



Die Geschichte eines Ersatzfahrers

„Die Geschichte beginnt mit meiner Nominierung für das belgische Team. Mehr als zweihundert Kandidaten standen zur Auswahl! (…) Ich war zunächst nicht dabei. Meine Enttäuschung lässt sich nicht beschreiben. (…) Ich war zwanzig Jahre alt, aber in meiner zweieinhalbjährigen Juniorenlaufbahn war ich immerhin schon fünfundvierzigmal als Sieger gefeiert worden. (…) Und diese „Visitenkarte“ sollte nicht für eine Nominierung reichen? Ich ging zu Felicien Vervaecke, einem belgischen Altmeister des Straßenrennsports, der als Mechaniker für die Friedensfahrtauswahl unseres Landes vorgesehen war. Und ich verließ ihn mit einem lachenden und einem weinenden Auge. Er hatte Lobeshymnen über mich gesungen, ja wahrhaftig Lobeshymnen. Ich sei eine der größten belgischen Hoffnungen, sagte er (…) „Hören Sie auf“, unterbrach ich ihn, „wie soll ich da verstehen, dass ich nicht die Friedensfahrt fahren soll?“ Seine Antwort war halbwegs einleuchtend. „Das Rennen ist verdammt schwer. Sie wollen dich schonen. In diesem Jahr stehen noch die Weltmeisterschaften auf dem Sachsenring und die Olympischen Spiele auf dem Programm. Da müssen sie unsere Besten systematisch vorbereiten.“ (…)

 

Wenige Tage nach dieser Unterhaltung wurde Vandenberghen doch noch nominiert, da Louis le Gros erkrankt war.



Die Jagd beginnt

„Unsere Mannschaft fühlte sich stark, jedenfalls stark genug, um jenes Ziel zu erreichen, das Belgiens Radsport nun schon seit Jahren verfolgte – nämlich: einmal einen Einzel- oder Mannschaftssieg bei der Friedensfahrt zu erreichen. (…) Wir gaben uns zwar keinem überspitzten Optimismus hin, aber unsere Stimmung konnte man als ziemlich siegesgewiß bezeichnen."



"Der Auftakt des Rennens förderte diese Stimmung noch. Gleich die erste Etappe von Prag nach Brno war mit zweihundertzwanzig Kilometern auch eine der längsten. Sie brachte den Tagessieg durch Weltmeister Schur, und den Ehrenplatz erkämpfte ich. Drei DDR-Fahrer (Schur, Adler und Hagen) und drei Belgier (Claes, Delahaye und ich) waren unter den ersten Zehn! In der Einzelwertung lag Schur mit winzigen dreißig Sekunden Vorsprung vor mir." (…)

 

"Die erste Etappe ließ mich bereits die Schwere des Rennens spüren. Die DDR-Fahrer hatten schon mächtigen Dampf aufgemacht. Nach hunderfünfundzwanzig Kilometern war Hagen als erster vom Feld weggesprungen. (…) Das Feld musste wohl so an die hundertvierzig Kilometer zurückgelegt haben, da zeigte ein Begleiter aus einem am Feld vorbeifahrenden Auto mit drei gespreizten Fingern an, dass die Ausreißer drei Minuten Vorsprung hätten. Ich befand mich gerade an der Spitze des Pulks. Den Sog des vorbeijagenden Autos machte ich mir zunutze – und ab ging die Post. Der Fahrer des PKW steigerte das Tempo, aber als er mir keinen Windschutz mehr gab, war ich auch schon gut hundert Meter vom Feld weg. Was stellte ich jedoch außerdem fest, als ich zurückblickte? An meinem Hinterrad klebte Gustav Adolf Schur! Wir waren beide allein. Jetzt oder nie, dachte ich. Mit diesem Könner als Begleiter musst du einfach weiterfahren. Sicherlich hatte Schur ähnliches gedacht; jedenfalls schoß er an mir vorbei und übernahm die Führung. Heißa, war das eine Jagd! Gut hundert Meter führte jeder abwechselnd. Und wie wir uns dabei in die Pedale „knieten“! Den Rücken gekrümmt, hundert Meter geführt und dann dem anderen wieder den Vortritt gelassen. So ging das in ständigem Rhythmus. (…) Und etwa vierzig Kilometer vor dem Ziel sahen wir in einer Ortschaft den letzten Mann der Ausreißergruppe dicht vor uns um eine Kurve verschwinden. Ich sage „dicht“, aber das waren noch gut zweihundert Meter. Doch auch die waren wenig später geschafft. Schur und ich „begrüßten“ die Spitzengruppe.

Unser „Aufenthalt“ war nur kurz. Einmal richtig im Tritt, jagten wir beide weiter. Noch achtundzwanzig Sekunden fuhren Schur und ich bis zum Ziel heraus, ehe die neun „Ausreißer“ eintrafen, die wir beide in der Schlussphase zu Verfolgern „degradiert“ hatten.“ (...)



Das „Gelbe Phantom“

Das war ein guter Einstand für Willy Vandenberghen. Auch die zweite Etappe, die von Brno nach Bratislava führte, verlief für die Belgier sehr zufriedenstellend. Er selbst belegte den vierten Platz, 40 Sekunden hinter Schur, der sich als zweiter Willy's Mannschaftskollgen Albert Covens geschlagen geben musste.

 

Die dritte Etappe von Bratislava nach Gottwaldov ließ das Geschehen etwas offener werden. Am Ziel erwartete den Belgier eine Überraschung, er hatte den Eindruck, dass die Jagd nach dem Gelben Trikot so etwas wie eine Jagd nach dem „Gelben Phantom“ werden würde. Vandenberghen erzählt weiter: "Meine ganze Aufmerksamkeit galt natürlich Schur, aber als wir das Ziel erreicht hatten, waren schon fünf Fahrer angelangt (…) Einer von ihnen tauchte nun in der Ergebnisliste zusätzlich vor mir auf: Erich Hagen. Zwei DDR-Fahrer in Front, das konnnte ja heiter werden!

Der eine hatte auf der nächsten Etappe von Gottwaldov nach Krakow großes Pech. Gustav Adolf Schur vermochte nicht die Kletten abzuschütteln, die an seinem Hinterrad hingen. Eine Gruppe nach der anderen jagte dem Feld davon, doch in keiner befand sich Schur. Der heftige Gegenwind an diesem Tage erschwerte außerdem alle Nachsetzversuche. So waren es am Ziel 17:45 Minuten geworden, die den Etappensieger Weißleder von dem Hauptfeld mit Schur trennten. (…) Jetzt war die Lage wieder günstiger für mich."

 

Hagen, Vandengerghen, Weissleder lautete jetzt das Classement bis zur 7. Etappe, nach der Weissleder wieder in Führung ging.



Die Felle schwimmen davon…

Auf der neunten Etappe blieb Willy aufmerksam, er folgte dem Gelben Phantom und erreichte nur zwei Plätze hinter diesem das Ziel in Frankfurt an der Oder. "Aber das Gelbe Phantom narrte mich. Es war nur der vierzehnte Rang, der für mich heraussprang, und das war zu wenig, um einen dreifachen Triumph der DDR verhindern zu können: Etappensieger Adler, Hagen und Weissleder bildeten nun das Spitzentrio in der Einzelwertung. Claes konnte mich erstmals überholen. Er war Vierter vor Gazda und mir." (…)

 

Auch auf der 10. Etappe kam es anders als gedacht. "Ich konzentrierte mich rein gefühlsmäßig auf Adler. Und wer machte sich das zunutze? Manfred Weissleder! Da hatte er mir am Morgen den Pessimisten vorspielen wollen, und nun zog er als Etappensieger in Dresden ein. Zur Abwechslung zierte sein Name wieder den ersten Rang im Ergebnisspiegel. Ein Glück für mich, dass ich(…) noch sein Hinterrad erwischt hatte und so Zweiter wurde. Das bedeutete für mich dreißig Sekunden Gutschrift und den fünften Platz hinter Claes (…)."



Die elfte Etrappe von Dresden nach Leipzig diente etwas zum Ausruhen, zur Vorbereitung auf das Einzel-Zeitfahren am nächsten Vormittag. "Mir war das nur recht. Ich fühlte mich stark genug, dort zum großen Schlag auszuholen, zumal mit Hagen abermals ein DDR-Fahrer die Etappe nach Leipzig gewonnen hatte und so wieder eine wertvolle Minute für mich verloren war. Dreißig Sekunden büßte ich gegenüber Adler ein, der den zweiten Platz belegte und in der Gesamtwertung an die erste Stelle rückte.“



Ein Hoffnungsschimmer

„Wie hatte ich mich nach diesem Kampf gegen die Uhr gesehnt! Her bist du das Gelbe Phantom los, hier ist nur der Minuten- und Sekundenzeiger dein Gegner, kein DDR-Fahrer weit und breit, auf den du besonders achten müsstest, damit er dir nicht davonfährt. Diese Gedanken beflügelten mich. Und ich fuhr Rekordzeit: vierzig Kilometer in 50:49 Minuten. Das hatte noch niemand vor mir auf dieser Strecke erreicht!" (…)

 

Das Fazit nach dem Zeitfahren (ich war mit nur 2:04 Minuten hinter Hagen und mit nur einundzwanzig Sekunden hinter Adler vorübergehend auf den dritten Rang vorgerückt) bestärkte mich in der Meinung: Hagen ist der Mann, welcher… "

 

"Wer kann meine Enttäuschung ermessen, als sich am Nachmittag des gleichen Tages, auf der zweiten Halbetappe von Halle nach Magdeburg, das Phantom doch wieder einzustellen schien! Ich hatte Hagen in meinen Klauen, und – da entfloh Adler! Er jagte in einer neunköpfigen Spitzengruppe davon, während ich den Schatten von Hagen spielte. 2:21 Minuten vor uns traf diese Gruppe am Ziel ein. Das genügte, um Schur den Etappensieg und Adler das Gelbe Trikot zu sichern. Doch das Gelbe Phantom hatte einen Fehler gemacht! (…) Claes hatte sich unter den neun Ausreißern (…) befunden. (…) Claes und ich hatten das DDR-Dreigestirn endgültig gesprengt. Wir beide waren auf Tuchfühlung an Adler und Hagen herangekommen. Angreifen und nochmals angreifen. Das wurde unsere Parole für die letzte Etappe von Magdeburg nach Berlin.“



Gestürzte Helden und gefeierte Sieger

Die 13. Etappe, die Schlussetappe wurde für die Belgier und die Deutschen zum Krimi. Ähnliches hatten die Fahrer bis dato kaum erlebt. Am Kilometerstein 18 begann das Drama: "Hier stürzte Egon Adler, der Mann in „Gelb“! Schon war er bis auf gut fünfundsiebzig Meter wieder an das Feld herangekommen, da bockte seine Ersatzmaschine. Er stieg ab und wechselte erneut das Rad. Doch als er diesmal die Fahrt fortsetzte, war es bereits zu spät. Inzwischen wussten wir im Feld Bescheid: Adler ist nicht mehr unter uns! Wir sahen Schur und später auch  Weißleder auf den Pechvogel warten. Hinter uns, aus dem Materialwagen der belgischen Mannschaft, erscholl der Schlachtruf Lucien Acous: „Allez! Allez!“ Und wir setzten uns an die Spitze des Feldes, entschlossen, bis zum Äußersten zu kämpfen!"

 

Erich Hagen hieß jetzt die einzige Hoffnung der DDR-Mannschaft, allerdings wurde es ihm und seinen beiden vebliebenen Gefährden Schober und Eckstein extrem schwer gemacht. Die Belgier erhielten Unterstützung von den Holländern und Franzosen, gemeinsam gingen diese zum Angriff über. Ihre Hoffnung war Jean-Baptiste Claes.

 

"Ich glaube, all die vielen Schweißtropfen, die auf dieser Etappe vergossen wurden, hätten einen Bottich von ansehnlichen Ausmaßen bis zum Rand gefüllt. Mir jedenfalls rann der Schweiß in Strömen vom Körper. Aber ich raffte mich immer wieder auf, fuhr Attacke auf Attacke. Und wurde ich auch nur für einen Augenblick müde, war ein anderer Belgier, Franzose oder Holländer da, der in die Bresche sprang, die Zähne zusammenbiß und wie ein Berserker für fünzig oder hundert Meter die Führungsarbeit übernahm. Aber sooft wir uns auch umsahen – Hagen, Schober und Eckstein waren immer noch bei uns! Sie führten keinen Meter, wer wollte es ihnen verdenken? Doch sie ließen sich auch nicht abschütteln!"

 

"Als wir in Berlin einfuhren, gaben wir es allmählich auf. Lediglich der Holländer von Smirren setzte noch einmal alles auf eine Karte. Er jagte davon; aber als er sah, dass ihm Claes nicht allein zu folgen vermochte, streckte auch er die Waffen vor der bewunderungswürdigen Tapferkeit der DDR-Fahrer. Dem Endkampf galt unsere letzte Hoffnung. Claes brauchte ja nur den ersten oder zweiten Platz. Hauptsache, Hagen dann hinter ihm, und Belgien hätte den Einzelsieg erobert!

 

Aber Hagen, dieses zu Fleisch und Blut gewordene Phantom, kannte genau die Einfahrt zum Zielstadion. Und diese Kenntnis nutzte er gut aus. Er stürmte rechtzeitig los und gewann die dramatischste aller dreizehn Etappen vor Gazda, Covens, Bangsborg und Claes, der zu spät bemerkt hatte, wie weit es noch bis zum weißen Kreidestrich war.

Erschöpft sanken wir von unseren Maschinen.“





Friedensfahrtmythen

Endergebnis 1960

Gesamt Einzel:

1. Erich Hagen (DDR)
2. Claes (Bel) + 1.22
3. Vandenberghen (Bel) + 2.56
4. Bangsborg (Dän)
5. Gazda (Pol)
6. Saidchushin (UdSSR)
7. Adler (DDR)
8. Eckstein (DDR)
9. Olisarenko (UdSSR)
10. Bradley (Eng)

Gesamt Mannschaft:
1. DDR
2. Belgien
3. UdSSR

Willy Vandenberghen hat diesen Bericht mit Sicherheit nicht selbst verfasst. Ob ein Interview mit ihm verarbeitet wurde, oder ob der „Ghostwriter“ die Geschichte dem Belgier um des stilistischen „Pfiffs“ willen in den Mund gelegt hat, lässt sich heute nicht mehr sagen. Dass Vandenberghen, der im Radjahr 1960 bei allen drei Amateur-„Monumenten“ (Friedensfahrt, WM, Olympia) auf dem Podium stehen sollte, als Lobsänger der DDR-Fahrer auftritt, ist in seiner Unwahrscheinlichkeit ein recht offensichtlicher Griff in die Trickkiste. Aber was tat man nicht alles für einen Propagandacoup…

 

Ganz nebenbei wurden damit auch die taktischen Fehler der haushoch überlegenen DDR-Mannschaft kaschiert. Der große Favorit Schur verliert auf der 4. Etappe knapp achtzehn (!) Minuten, was keineswegs nur „Pech“ war. In einem anderen Kapitel des Buches „Friedensfahrt“ wird vage angedeutet, was der Grund für diesen „Einbruch“ war. Dickschädelig weigerte sich Schur, seinen enteilten Mannschaftskameraden nachzusetzen. Ob das von Teamgeist zeugt oder einfach der beleidigten Kapitänsseele entsprang, die empört über den Angriff seiner Helfer war, weiß nur „Täve“ selbst.

 

Die Protagonisten dieser Friedensfahrt sollten sich schon bald wieder gegenüber stehen…



>>> Epilog

 

 

Zitiert nach:

Friedensfahrt. Hrsg. Horst Schubert. Sportverlag Berlin, 1962

Bildnachweis:

Die Bilder stammen ebenfalls aus diesem Buch. Verlag und Fotografen waren jedoch nicht erreichbar, eventuelle Urheberrechtsansprüche bleiben daher erhalten. (*)

 

Beitrag von Torsten Reitler, Mai 2005

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