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Radtour von St. Gallen nach Rom 2007, Teil 2

von Manfred Poser





die Tour, 7. bis 12. Tag



7. Tag...

Die Stadtmauern Ferraras

16. Mai, Mittwoch. – Leena sitzt sicher schon wieder im Flugzeug. Ich packte meine Sachen aufs Rad und fuhr auch ab mit Ziel Ferrara. Außerhalb steuerte ich eine der berühmten Villen des Palladio an: Kostete 5 Euro Eintritt und war es nicht ganz wert. Italiener sind immer vorn dran, wenn es drum geht, Eintritt zu erheben. Die Hotelbesitzer erhöhen mit Freuden ihre Preise, auch wenn danach die Gäste ausbleiben. Nun die flache Landschaft der Po-Ebene mit Barbarano und Noventa, Badia, Canda und Occhiobello, und wenn ich nach einem Jahr so darüber nachdenke, blinken auch noch ein paar blasse Bilder auf. Einmal habe ich mich hinter zwei ältere Rennradler geklemmt und bin Windschatten gefahren, richtig stramm mit 30 Sachen, und die beiden haben es nicht einmal gemerkt. Dann näherte sich Ferrara, und das Schöne an Campingplätzen ist, dass man sie meist gleich findet. Es gibt gute Schilder.

 

So baute ich also, mittlerweile schon routiniert, zum sechsten Mal mein Zelt auf und fuhr noch an den alten Stadtwällen Ferraras entlang. Diese Reise sollte auch eine literarische sein, und Ferrara heißt ja: „Die Gärten der Finzi-Contini“ von Giorgio Bassani, höchst empfehlenswert, von Visconti 1970 auch verfilmt. Es geht um eine wohlhabende jüdische Familie, die ein großes Anwesen hinter den Wällen besitzt (nicht zu lokalisieren). Die Tochter Micòl ist eine außergewöhnliche junge Frau, der Erzähler verliebt sich in sie, doch die Beziehung gedeiht nicht, und am Ende – wir schreiben das Jahr 1941 – verschwindet die Familie: deportiert und ermordet. Eine traurige Geschichte. Fröhlich geht es dafür in Ferraras Zentrum zu. Man glaubt sich auf einer Theaterbühne, auf der das Stück „Mit dem Rad unterwegs“ gegeben wird. Alle sind sie auf zwei Rädern unterwegs, meist sitzen sie etwas niedrig, die Beine hoch, und so rollen sie dahin, halten an mit dem Rad und plaudern, preschen an einem vorbei; überall Fahrräder, es ist wie im Paradies. Ferrara ist in ganz Italien als Fahrradstadt bekannt, und jetzt hatte ich es auch miterlebt. Man könnte sie auch „Fahrrada“ nennen.

 



8. Tag...

17. Mai, Donnerstag. – Noch weiter südlich. Diesmal wollte ich es bis Ravenna schaffen, mit einem Abstecher nach Faenza. Denn da gab es eine Buchhandlung „Moby Dick“, und da der Verlag Moby Dick in Kiel von Klaus Bartels, jedoch Teil des Delius-Klasing-Verlags in Bielefeld, meinen Roman veröffentlichen wollte, musste ich nach Faenza. Es mögen 80 Kilometer gewesen sein ohne große Schwierigkeiten, da alles flach. In Faenza war ich etwas irritiert, aber dann verstand ich, wie man die große Straße umging, um direkt zur Hauptkirche zu kommen. Daneben war schon die Buchhandlung, wo ich Renzo kennenlernte, einen lustigen Buchhändler, dem ich den Beginn von „Dora Marcus“ von Eugenio Montale (Nobelpreis 1971) vortrug, und er kannte das Gedicht nicht einmal! Wir schlugen es in einem Sammelband nach, und es war sogar nur gekürzt abgedruckt, dieses legendäre Gedicht, das uns am 9. Tag noch einmal begegnen wird. Jedenfalls: große Freundschaft zwischen Renzo und mir, und ein Buch verriet, dass es nördlich von Ravenna, wo die berühmte Brücke des Dora-Marcus-Gedichts lag („Fu dove il ponte di legno / mette a Porto Corsini sul mare alto“), also in Porto Corsini, einen Campingplatz geben musste.

 

Die Fahrt dorthin ist etwas öde (zwischendurch merke ich, dass ich nun tausend Kilometer hinter mir habe), vorbei an Raffinerien und über autobahnähnliche breite Straßen, fünf Mal gefragt und drei Mal mich verirrt, und in Porto Corsini fragte ich dann noch einmal ein paar junge Leute, und tatsächlich, ja, da gebe es einen Campingplatz: im Pinienwald. Da schlug ich dann mein Zelt auf und unternahm noch einen Abstecher zum Wasser, wo gerade ein Schiff ablegte nach Kroatien. Die Pizzeria lag im Campingplatz, schöner kann es nicht sein, und zu Hause in St. Gallen, hörte ich, hatte es den ganzen Tag lang geregnet. In Ravenna, wo nebenan unter Pinien St. Galler und Appenzeller campten, herrschte blauer Himmel, nur die Erde war hart und die Nacht schwarz wie überall.

 

Libreria Moby Dick


9. Tag...

Blick ins Pantani-Mausoleum

18. Mai, Freitag. – Verso sud: Richtung Süden. Eine nette Frau am Campingplatz hatte mir die ominöse Brücke beschrieben aus dem Montale-Gedicht, die aber nicht mehr aus Holz sei. Fünf Kilometer vom Campingplatz entfernt. Ich erkannte sie wieder, denn da geht es wirklich aufs offene Meer hinaus, und dahinter war es wohl, wo „uomini, quasi immoti, affondano e salpano le reti“: die Fischer. Ich stellte mein Rad ab, entfernte mich von ihm, machte ein Foto, der Wind blies, und dann lag mein fernes Rad plötzlich am Boden. Ich spurtete hin, zog mir eine Windjacke aus dem Rucksack über und fuhr überhastet los – um drei Kilometer weiter mir einer ungeahnten Leichtigkeit um den Schultergürtel bewusst zu werden. Mein Rucksack war nicht auf meinem Rücken! Ich jagte zurück. Ich Schussel hatte ihn abgelegt, und, da er einfach zu leicht war, nicht mehr aufgenommen. Er war nicht mehr da. Drin waren ein Pullover, ein Unterhemd und zwei alte Pfeifen (eine war 30 Jahre alt). Betrübt fuhr ich weiter, folgte einfach den Schildern „Ravenna“ und dann „Rimini“, landete auf der großen Nationalstraße, wurde von Dutzenden Oldtimern überholt, denn es war „Mille Miglia“, das berühmte Treffen. Es gab also etwas zu schauen.



Das Mausoleum von außen

Es gab auch etwas zu gucken, als ein Rennradlerpaar anhielt (Verbot für Fahrräder; ich hatte die Nationalstraße verlassen müssen) und mich anwies, ihm zu folgen: Die Frau war sicher über 40, hatte aber einen halb entblößten, gebräunten und wunderbar muskulösen Rücken, den anzuschauen ich nicht vermeiden konnte, weil sie auch noch schnell war ... Dann schwenkte ich zum Meer ein und näherte mich Cesenatico. Im Jahr davor hatte ich die Biografie von Marco Pantani übersetzt („Uomo in fuga“), geschrieben von seiner Managerin Manuela Ronchi, und ich bin nicht mehr recht glücklich darüber. Frau Ronchi war mit Marcos Betreuung völlig überfordert, fand aber kein Wort des Bedauerns, dass man vielleicht etwas falsch gemacht hatte ... und dann faselt sie auch noch, dem Champion sei „seine Ehre zurückgegeben worden“, weil die Untersuchung seines Rückenmarks keine Dopingspuren verriet. Epo wird indessen bald abgebaut, und natürlich war der gute Marco auf Epo, warum hätte er sonst mit einem Gerät (auch vor dem 5. Juni 1999) immer seinen Hämatokritwert kontrolliert? In dem Buch werden Reisen nach Madrid beschrieben, und nun weiß man, dass Marco den guten Dottor Fuentes besuchte.



Die Brücke von Porto Corsini

Was nichts daran ändert, dass er ein tragischer Champion war, den alle liebten, auch 2003 noch, als er nicht mehr viel schaffte. Wenn er angriff, jubelten ganze Täler. Keiner hat seither mehr die Herzen der Italiener so bewegt wie Marco von 1997 bis 2003. Das Museum am Bahnhof machte erst um drei auf, also zum Friedhof und eine Gedenkminute vor dem Pantani-Mausoleum. Cesenatico am Meer: Da war ein riesiger Jahrmarkt, eine Fahrradmesse (ich erwarb eine Mercatone-Uno-Hose und ein dazu passendes Leibchen ohne Arm), denn am nächsten Tag sollten die „Nove Colli Marco Pantani“ stattfinden, das legendäre 200-Kilometer-und-2500-Höhenmeter-Rennen. Überall Rennradler, sie schossen überall heraus, viele Deutsche und Österreicher, und ich schloss mich wieder einem Paar an, das nach Rimini unterwegs war und mich leiten wollte. Rimini ist eine große prächtige Stadt, die Stadt von Federico Fellini, und man muss unbedingt sein „Amarcord“ sehen. Der nächste Campingplatz, erfuhr ich, sei in Cattolica, 20 Kilometer weiter, dann allerdings lange nichts mehr. Also rollte ich gegen 19 Uhr auf den Campingplatz in Misano Cattolica, setzte mich abends ans Meer und wartete den Sonnenuntergang ab und aß dann in der Pizzeria gegenüber. Ich hätte mir auch mal ein Menü gönnen können mit Fleisch, denn 130 Kilometer waren’s wieder, wenn auch alle flach. Es kam auch der Campingplatz-Verwalter, das sind die Bezugspersonen auf den Reisen, und er hatte einen mongoloiden Freund, dem er über die Glatze strich, das war rührend. Mit den Fahrrad strandet man an Orten mit einfachen Leuten, man sieht ihrem Leben zu, und er, der Verwalter, bedankte sich am nächsten Morgen mit den Worten: „Danke für Ihr Hiersein, Ihr Interesse.“ Da fühlt man sich wie gesegnet.

 



Sonnenuntergang in Cattolica


10. Tag...

Cosimo und die Frau aus der Bar

19. Mai, Samstag. – Die Ankündigung stimmte: Gleich ging es Hügel hoch. Das Flachland ist zu Ende, und man darf oberhalb des Meeres entlangfahren, wird mit spektakulären Ausblicken auf tiefblaues Wasser belohnt, die Sonne lacht, Rennradler fliegen vorüber, und ein Radler leistete mir auch Gesellschaft, wir redeten so bis Pesaro (da ist Rossini geboren), und am Ende verabschiedeten wir uns, und er klopfte mir an den Helm, und eine richtige Welle von Zuneigung überströmte mich. Italiener sind warmherzige Zeitgenossen; aber wem sage ich das? Und noch einer zeigte mir den Weg hinaus, und an der großen Straße musste ich mir erst ein Duschtuch kaufen, da mein bisheriges, wie sich erwies, auf einer Leine in Misano Cattolica hängengeblieben war. Das sind die kleineren Verluste. Nicht von Bedeutung.

 

Also folgt man stoisch der Straße nach Fano und weiter. Es ist heiß, man holt sich mal ein Eis, und hier bemerke ich, dass ich auf meinen Radtouren mit einem festen Ziel ein Getriebener bin. Ich mache keine Mittagspause; ich halte nur an, um Nahrung und Wasser zu bunkern und bin gleich wieder weg. Man sollte einmal ins Blaue hineinfahren, einfach so, anhalten, vor sich hinträumen; aber nein, man ist mit dem Ideal der Leistung aufgewachsen und folgt ihm. Und so kann man es natürlich nicht zulassen, an einem Tag weniger als 100 Kilometer zu fahren. Ancona, die große Stadt. Vor der großen Stadt, vor einem Horrortunnel, hält mich ein Polizeiwagen auf. „Sie können hier nicht fahren“, sagt die Frau hinter dem Steuer und zeigt mir eine kleine Straße am Meer. Die Karte hilft nicht; man braucht konkrete Hinweise, um diese Straßen zu finden. Es wird ja zunehmend schwer, als Radfahrer in dieser autogerechten, schnellstraßendurchzogenen Welt seinen Kurs zu finden.

 

Die Küstenstraße südlich von Ancona ist atemberaubend, hoch geht es auf den Monte Conero bis Sirolo und Numana, man streift Porto Recanati (unweit, in Recanati, ist der berühmte Dichter Leopardi geboren) und nähert sich Civitanova Marche. Dahin wollte ich, da mein Schwager Angelo aus diesem Ort ist. Schon gegen acht, es dunkelt leicht, und ein Schild schickt mich auf einen Campingplatz, der nicht besonders einladend wirkt. Es gebe keinen Strom, sagt einer, aber natürlich könne ich ... Ich rufe Chiara an in Rom (Angelos Frau und die Schwester meiner Partnerin), die mir von diesem Platz abrät, es gäbe noch einen in der Stadt ... und den finde ich dann auch, es geht steil hoch, und das Zelt steht dann unter Bäumen, und man sieht schräg hinunter auf die steinernde Stadt am Meer. Der Platz „Belvedere“ scheint völlig verlassen zu sein. Ich dusche neben einem Sportplatz, auf dem ein kleiner Junge kickt. Er heiße Thomas Schüssler, sagt er, ist neun Jahre alt, seine Eltern wohnen hier. Er stottert. Plötzlich fange ich, als ich mit ihm rede, auch zu stottern an. Der Kleine kickt hier ganz alleine seinen Ball durch die Gegend. Hat keinen Freund.

 

Die Pizzeria unten ist voll, viel Jungvolk, und endlich die Pizza und der halbe Liter Wein mit Wasser, die Ration für den Abend. Wieder ist der Boden hart und die Nacht lang.

 



11. Tag...

20. Mai, Sonntag. – Schon wieder ein Sonntag? Ich frühstücke drunten in einer Bar am Eck und erzähle, dass ich nach Rom fahren möchte. Denn noch ist nicht klar, wann ich „abbiegen“ muss. Es gibt einige Varianten, denn viele Wege führen, wie man weiß, nach Rom; manche sagen, alle Wege. Ein Alter sagt einfach: „Drei Kilometer weiter ist doch die Abzweigung, mach’ Macerata – Tolentino – Spoleto.“ Guter Tipp! Auf Reisen ist es wichtig, immer zu sprechen, um viele Informationen zu bekommen. Denn manchmal ist die goldene Information dabei.

 

Ich quäle mich also wieder zum Campingplatz hoch, folge den Schildern nach Macerata, neben mir brummt es, und ein Motorradfahrer hält an. Ein südamerikanischer Typ, der erzählt, er habe früher auch viele Touren mit dem Rad unternommen. Er heißt Cosimo und will mich unbedingt zu einem Kaffee einladen. Er fährt also brummend vor mir her und ich folge. In der Bar schließen wir auch gleich Freundschaft mit der Kellnerin, Cosimo hat das gewisse Etwas, ist ein Charmeur und in Argentinien geboren. Übrigens ist er immer ungern allein gefahren. „Io piango“, erzählt er: Ich habe geweint. Er habe viel geweint. „Io non spirito forte. Ma tu, spirito forte.“ Er sei nicht stark, ich aber sei es schon: starker Geist. Wir machen Fotos, umarmen uns, er brummt weg, ich fahre nach Tolentino.

 

Dann gibt es wieder ein Schild: Radfahren verboten. Doch neben der Superstrada muss es doch noch die alte Straße geben, und es gibt immer jemanden, der den Weg kennt. Einige wenige brausen auf der Superstrada dahin, und daneben trete ich auf der alten Landstraße in die Pedale, durch wilde Berge, und vor Spoleto geht es nochmal gnadenlos hoch und runter und wieder hoch. Dann habe ich 158 Kilometer hinter mir und frage hoffungsvoll nach einem Campingplatz. Ja, den gebe es. Der letzte Anstieg, die letzte Aktion des Tages. Oben einige Terrassen, um sein Zelt aufzubauen. Steinharter Boden. Ich trinke gleich ein Paulaner. Bin völlig geschafft. Später bleibe ich draußen und esse meine Pizza, obwohl es kalt ist: Spoleto liegt hoch, 800 Meter, da pfeift der Wind.

 



12. Tag...

21. Mai, Montag. – Der letzte Tag soll das werden. Terni und Narni klingt für mich schon wie Rom, wir sind schon im Latium, aber immer wieder Anstiege bis Cività Castellana. Das ist nun richtig nahe an Rom, und ein Schild sagt: 80 Kilometer. Nun kann ich also den Countdown richtig genießen. Das ist auf der alten Via Flaminia. Da fahren sie wie die Schweine, und einmal, als mich ein Lastwagen allzu knapp überholte, bin ich sogar gestürzt, aber bei geringem Tempo, eigentlich nur umgefallen ohne Folgen. Später riet mir ein römischer Radler, nie ganz außen zu fahren, eher ein wenig Richtung Mitte, um niemanden dazu zu verleiten, überholen zu wollen. Prima Porta, der Friedhof. Ich rufe Chiara an, sie erwartet mich. Es ist vier Uhr, aber dann soll es noch drei Stunden dauern, bis man Rom durchquert hat. Dann nach dem Kolosseum wartet die Viale Cristoforo Colombo auf mich, Chiara wohnt acht Kilometer vom Meer, man muss also noch öde 25 Kilometer hoch und hinunter, und in der Ferne glitzert schon das tyrrhenische Meer; auf einem Schild steht Castel Fusano, nur noch links abbiegen und durch das Eigenheimraster die Via Alessandra Parisotti suchen ... Chiara ist da. Sie umarmt mich und fotografiert mich. Zwölf Tage, 1640 Kilometer, St. Gallen–Rom. „Mammamia, du bist aber mager geworden“, meint Chiara. „Aber wir werden dich schon wieder hochpäppeln.“

 

 

(In Rom war dann noch das Intergalaktische Critical Mass, 1000 Radfahrer auf der Piazza del Popolo, die dann zwei Stunden durch die Stadt fuhren. Treffen mit Freunden. Entsetzen über die immer mehr zunehmende Zahl der Autos. Die Rückfahrt machte ich dann, eine Woche später, mit dem Zug von Roma Termini nach Florenz und dann mit dem Nachtzug, der auch Räder transportiert, nach München.)

 

Infernetto bei Rom, nach 12 Tagen

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