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Marco Pantani, Giro d'Italia 1999

Text und Fotos von Manfred Poser, August 2008



Madonna di Campiglio, Hotel Touring, 5. Juni 1999



Die 24 Stunden, die den Untergang von Marco Pantani besiegelten

1998 war das Jahr des Marco Pantani. Er gewann den Giro d’Italia und danach die Tour de France. Es war zwar die „Skandal-Tour“ nach der Festina-Affäre – man hatte Masseur Willy Voet mit einer Masse Dopingmitteln an der Grenze geschnappt, doch das tat Marcos Popularität keinen Abbruch. Alle liebten den kleinen glatzköpfigen Fahrer aus Cesenatico an der Adria, den Piraten mit dem Kopftuch, den Angreifer mit Herz. Da war nun ein Champion, dachten alle, der das Zeug dazu hatte, in den kommenden drei, vier Jahren dem Profiradsport seinen Stempel aufzudrücken. Selten hatte man es einem mehr gewünscht. Wenn der Sprecher schrie „Pantani greift an!“, ging es wie ein elektrischer Schlag durch die Zuschauer.



Indessen blieben dem Piraten nach der Gratulationscour auf den Champs-Élysees gerade noch neun Monate Ruhm und Glück. Dann kam der Tag Anfang Juni 1999, der alles zerstörte: alles. Man verdonnerte ihn wegen eines zu hohen Hämatokritwerts zu 14 Tagen Pause, raubte ihm damit aber das Rosa Trikot und den sicher geglaubten Sieg beim Giro d’Italia. Pantani hätte dies als Betriebsunfall abtun können. Doch er fühlte sich seinen Fans verpflichtet und schämte sich vor ihnen; er litt wie ein Hund unter dem Makel des Dopingsünders (der er wohl war), und alles hätte noch gut werden können, wäre er 1999 bei der Tour de France angetreten.

 

Aber seine Freunde appellierten an seinen verwundeten Stolz; er solle zu Hause bleiben, dann werde man sehen, dass Radsport ohne Marco Pantani nichts sei. Der Mann aus Cesenatico war verbittert, überließ das Feld Jan Ullrich und Lance Armstrong, und danach ist er von Krise zu Krise gestolpert und hat nur noch zwei Etappen gewonnen, beide bei der Tour: eine im Jahr 2000, eine 2003. Er wurde kokainsüchtig, verballerte für den Stoff sein halbes Vermögen, bekam psychische Probleme, und schließlich, am 10. Februar 2004, verschwand er. Vier Tage später fand man ihn tot in einer Pension in Rimini. Eine Überdosis. Womöglich Selbstmord. Geboren war Marco Pantani am 13. Januar 1970. Er wurde 34 Jahre alt.



Madonna di Campiglio

Das weiß ich alles so gut und auswendig, weil ich im Jahr 2006 das Buch „Uomo in Fuga“ (Mann auf der Flucht) von Manuela Ronchi übersetzte. Das Buch bekam den Titel „Der Pirat“ und verkaufte sich schlecht. Blieb einfach liegen. Die letzten Zeilen lauten so: „Marco hat uns in einer ‚öden Traurigkeit’ zurückgelassen – sein eigener Ausdruck, den er in seinem poetischen ‚Testament’ benutzte, um seinen Seelenzustand nach den Geschehnissen jenes schicksalhaften 5. Juni zu beschreiben, die sich in einem Ort zutrugen, dessen Name immer dunkel in meinen Ohren klingen wird: MADONNA DI CAMPIGLIO!“ So schreibt Manuela Ronchi, Marcos Managerin ab 1998.

 

Anfang Juli 2007 tauchte ich, von Cesena kommend (20 Kilometer von Cesenatico entfernt, im Landesinneren), mit meinem Volvo in Malè auf, einem Bergdorf im Trentino. Im Auto hatte ich mein neues Rennrad von Wilier Triestina, das „Mortirolo“ heißt. Ich wollte wegen dieses Namens den Mortirolo-Pass fahren, aber Madonna di Campiglio (1650 Meter über dem Meer) lag auch in der Nähe von Malè (728 Meter). Fünf Kilometer zur Abzweigung, dann zehn Kilometer hoch, 900 Höhenmeter. Natürlich dachte ich schon beim Frühstück an Marco Pantani. Ich wollte hochfahren und dann eine 120-Kilometer-Runde drehen. Es kam dann anders.

 

Merkwürdig, im Lebensmittelladen erzählte mir gleich die Verkäuferin unaufgefordert von ihrem Traum der vergangenen Nacht: Es sei eine Bahre mit einem Toten an ihrem Haus vorbeigetragen worden, sechs Männer hätten an jeder Seite gestanden. Aber, schloss sie, ein Toter bringe ja meistens Glück. Das war mir neu. Ich trug übrigens eine Radlerhose von Marcos altem Team „Mercatone uno“, im Mai davor in Cesenatico gekauft (wo ein Besuch am Mausoleum der Familie Pantani nicht fehlen durfte), und darüber ein ärmelloses Trikot vom selben Team (das Rosa Trikot hatte ich auch dabei, aber in der Bauchtasche; ich schämte mich ein wenig, es hier in Italien überzustreifen ...) Also in Pantani-Verkleidung hoch auf den Pass Carlo Magno, 1689 Meter. Kein Problem.



Hotel Touring – Elena erzählt, was am 4. Juni geschah

Ich rollte vom Pass hinunter in den Ort, setzte mich auf einen weitläufigen Platz und machte Pause. Auf der Karte sah meine geplante Runde nun viel länger aus als gedacht, und plötzlich kam mir der Gedanke, bei dem Hotel vorbeischauen zu wollen, in dem Marco jenen schrecklichen Tag erlebt hatte. Hotel Touring heiße es, erfuhr ich in einem anderen Hotel. Das „Touring“ ist ein schöner, heimeliger Holzbau mit Blick hinunter auf den Ort. Ich fotografierte es mit meinem Rad davor und gab einer weiteren Eingebung nach: hineinzugehen und nach dem 5. Juni 1999 zu fragen.



Das Hotel Touring in Madonna di Campiglio, Etappenort des 'Giro' am 4. Juni 1999.


Da saß ein junger Mann, Bruno, untätig an der Rezeption und reagierte gleich zuvorkommend. Er sei damals nicht im Dienst gewesen, aber ... Es tauchte Elena auf, seine Mutter, um die 60, aber schlank wie ein Mädchen und temperamentvoll, und sie war dabeigewesen. Also fing sie mit ihrer Geschichte an, und ich hörte atemlos zu. Sie stieg mit der Episode ein, wie der Mannschaftsarzt von Mercatone uno am 4. Juni 1999 um Mitternacht sich anschickte, das Hotel zu verlassen. Er schloss sich zwei japanischen Hostessen an, um sich ins Nachtleben zu stürzen. „Komisch, dachte ich mir“, sagte Elena, „der Mannschaftsarzt verschwindet. Und wenn nachts etwas passiert? Aber sie haben ja alle Handys.“

 

Im Buch bestätigt sich das; es wird Roberto Rempi zitiert (so heißt der Arzt), der sagte, er habe spät abends wie gewöhnlich seinen Rundgang durch die Zimmer gemacht. „Ich habe mit Marco gesprochen, auch angesichts einer für sicher gehaltenen Kontrolle des Hämatokritwerts, aber alles war normal. Nachdem ich ihm eine gute Nacht gewünscht hatte, bin ich also, um die Spannung des fast beendeten Giro abzubauen, zum Fest der Karawane ins Dorf gegangen.“ Das durfte er ja auch.

 

Aber was war vorher geschehen? Der Giro war fast beendet. Laurent Jalabert von Once hatte das Rosa Trikot getragen, doch dann kam Pantanis Show am Oropa-Pass. Nach einem Kettendefekt jagte er los, überholte 50 Fahrer und am Ende auch Jalabert, der danach den denkwürdigen Ausspruch tat: „Ich musste Platz machen, sonst hätte mich Pantani vermutlich überfahren.“ So holte sich Marco Pantani das rosarote Kleidungsstück, und ..: „Die Menge, die den Berg geentert hat, fällt fast ins Delirium, und vor den Fernsehschirmen beklatschen Millionen Zuschauer begeistert diesen kleinen großen Mann, der fähig ist, einzigartige Emotionen zu wecken.“ Pantani verliert in Lumezzane knapp gegen Jalabert, brummt Simoni in Alpe di Pampeago einen Minute auf, und am Tag vor der Monsteretappe Gavia / Mortirolo gewinnt er den Abschnitt von Predazzo nach Madonna di Campiglio. Der Sieg war ihm kaum noch zu nehmen. Er hatte sechs Minuten Vorsprung vor dem Zweiten.



Ein Pyrrhus-Sieg?

„In der Hotelhalle saß Felice Gimondi, als Marco nach seinem Sieg hereinkam“, berichtete Elena weiter. „Er sagte: ‚Marco, was hast du getan?’ Denn eigentlich hätte ein belgischer Fahrer gewinnen sollen, wie es die Mannschaften ausgemacht hatten. Marco rechtfertigte sich: ‚Ich habe mich umgedreht, da war keiner mehr hinter mir, und da bin ich eben gefahren.’ Aber er spürte wohl, dass er einen Fehler gemacht hatte. Dann kamen all die anderen. Das Abendessen im Speisesaal. Links saß die Mercatone uno, rechts die Saeco mit Mario Cipollini und Paolo Savoldelli. Bei der Mercatone uno herrschte Totengräberstimmung – bei der Saeco Trubel. Ich dachte mir: Marco hat doch gewonnen, warum freuen die sich nicht? Die Saeco-Fahrer waren bester Laune und riefen immer wieder nach meinen hübschen Kellnerinnen, aßen Steaks und Nachspeisen und alles. Bei Mercatone uno keine Regung. Alle ließen die Köpfe hängen.“

 

Elena führt mich in den Speisesaal und deutet auf den Platz, auf dem Marco Pantani saß; vor dem Spiegel. „Während des Essens kam der Chefredakteur der ‚Gazzetta dello Sport’, Candido Cannavò, setzte sich zu Marco, gratulierte ihm, umarmte und küsste ihn ... und er hat ihn als erster in einem Leitartikel seiner Zeitung angegriffen und verraten.“ Also ein Judaskuss. Wirklich? Am 6. Juni 1999 schrieb Cannavò in seinem Artikel, der in der Tat um „menschlichen und sportlichen Verrat“ kreiste, Sätze, die leider unverminderte Aktualität besitzen. „Im Radsport herrschen stillschweigende Duldung und Heuchelei. Gelobt wird, wer sich schlau durchmogelt, wer durchzuschlüpfen versteht“.

Der Gazzetta-Chefredakteur rügte auch „Pantanis Clan“ und das „Klima der großen Familie bei Mercatone uno“ (das wohl auch bei Telekom, später T-Mobile, um Jan Ullrich herrschte). Weder „der Radsport noch sein Messias können in Zukunft das sein,was sie vorher waren.“ Vielleicht mochte Candido Cannavò der kleinen Piraten aus Cesenatico wirklich und wollte ihm helfen? Eine Aussage neun Jahre später deutet darauf hin, dass Madonna di Campiglio sich ihm eingeprägt hatte.

 

Denn zwei Wochen nach meiner Reise war Candido Cannavò im Fernsehen zu sehen gewesen, in den Rai-Nachrichten. Er kommentierte am 18. Juli 2008 kurz den Fall Riccardo Riccò und sagte ungefähr: „Vor neun Jahren habe ich den Fall Marco Pantani in Madonna di Campiglio miterlebt. Er ging als Held zu Bett und wachte zerstört auf. Nun wiederholt sich diese Geschichte. Riccò hatte viele begeistert, und jetzt wurde er wegen Dopings gefasst. Dieser Radsport ist unheilbar krank.“

 

Riccardo Riccò von Saunier-Duval, 24 Jahre alt, hatte sich vorher vor der Kamera einer Reporterin geäußert. Nach einer Nacht im Knast und voll in der Scheiße steckend, sagte er zur Kündigung: „Das ist Routine. Das machen die Teams so.“ Was er seinen Fans sagen wolle, die er wohl enttäuscht habe? „Ich werde das durchstehen und noch stärker zurückkommen.“ Abgebrüht, der Junge. Eine Woche vorher hatte er noch zu Eugenio Capodacqua, Sportchef von „La Repubblica“, im Vorbeigehen gesagt: „Ich sehe es wie Di Luca.“ Das hieß: Über Doping äußere ich mich nicht. Capodacqua kommentierte das in einem Artikel mit den Worten: „Da war mir gleich klar, mit dem wird es ein schlimmes Ende nehmen.“



Antonio kommt hinzu und klärt einiges

Elena und Antonio Dallagiacomo, Inhaber des Hotel Touring in Madonna di Campiglio (www.htouring.it).

Dann taucht Antonio aus dem Rückraum auf, Antonia Dellagiacomo, Elenas Mann und mit ihr Besitzer des Hotels. Er steuert bei, Marco Pantani habe an jenem Abend „einen Berg Reis mit Parmesan“ verzehrt. „Du, wer hätte die Etappe von Madonna di Campiglio gewinnen sollen?“ fragt ihn seine Frau. – „Virenque“, antwortet er. Es sei ein Deal gewesen. Gerade Richard Virenque, der vielmalige Bergwertungssieger der Tour de France und Festina-Mann, der sich später tränenreich als Doper zu erkennen gab und von dem Willy Voet nichts Nettes schreibt! Antonio führt die Erzählung fort. „Ich hatte in der Nacht auf den 5. Juni 1999 Dienst. Am Morgen kamen die Kontrolleure, drei Mal. Um vier, um halb sechs, um sieben.“ Der Arzt Roberto Rempi war morgens nicht wie sonst dabei, als die „Vampire“ seinem Spitzenfahrer Blut abzapften, weil er in ein anderes Zimmer gerufen wurde. Seltsam. Beppe Martinelli, Sportlicher Leiter von Mercatone uno, schilderte, die Kontrolleure seien um viertelnachsieben dagewesen, und eine Viertelstunde später hätten sie ihn schon angerufen mit der Nachricht, Pantani liege über dem Grenzwert. Auch das seltsam.

 

Marcos Zimmerkollege Fabrizio Borra gab zu Protokoll, vor dem Schlafengehen hätten sie noch einmal den Hämatokritwert überprüft. 48,6 hätte Marco gehabt und gesagt: „Siehst du? Alles im grünen Bereich.“ Der Wert durfte 50 nicht überschreiten.

 

Hier ist selbstverständlich eine Anmerkung nötig. Wer sich nicht dopt, hat es nicht nötig, mit einer kleinen Zentrifuge seinen Hämatokritwert zu überprüfen. Marco schrieb, er habe niemanden betrogen, aber haben wir das nicht schon öfter gehört? Im Buch „Der Pirat“ werden nach dem Jahr 2000 einige Reisen nach Madrid erwähnt. Pantani soll ja bei Fuentes gesehen worden sein. Keine Illusionen. Manuela Ronchi muss das gewusst haben, auch wenn sie in ihrem Buch schreibt, die Autopsie des Rückenmarks habe den Champion von jedem Verdacht gereinigt. Doch Epo-Spuren werden vom Rückenmark nach vier Wochen abgebaut. Die Lüge steckt in dieser Branche wie der Wurm im Apfel.



Zimmernummer 27. Das scheinbare M darüber (wie für Marco) ist ein altes Symbol für die Gastfreundschaft.

Über die frühmorgendlichen Kontrolleure schrieb Borra: „Sie haben komisch und aufgeregt reagiert, haben an deine [Marcos] Tür geklopft und dich angeherrscht, du müsstest auf der Stelle aus dem Zimmer kommen. Sie haben das Blut abgenommen und dich in arroganter Weise angewiesen, deinen Namen auf der Probe zu verifizieren. ‚Siehst du das? Stimmt es, dass es deine Probe ist?’ Das haben sie mindestens drei oder vier Mal wiederholt. Ein reichlich komisches Benehmen ...“



Das Chaos bricht aus

Und dann war die Nachricht durchgesickert. Managerin Manuela Ronchi erfuhr es auf ihrem Weg zum Hotel, alle schienen es zu wissen, es sprach sich herum wie ein Lauffeuer: „Pantani positiv bei der Dopingkontrolle! Pantani des Dopings überführt!“ Und nun wurde es schrecklich. Elena: „Innerhalb einer halben Stunde war unser Hotel überfüllt. Bei allen Eingängen kamen sie herein. Immer mehr Leute kamen. Andere standen draußen. Ich glaube, es waren insgesamt zweitausend. Sie besetzten die Hotelhalle. In der Nähe des Aufzugs weinten ein paar Leute von Mercatone uno. Oben schrie Pantani: ‚Was habt ihr mir angetan!’ Er schrie es, er war wie von Sinnen. ‚Was habt ihr mir angetan?’ Die Leute kamen durch den Dienstboteneingang, waren auf den Treppen, im Speisesaal, sie haben uns das ganze Hotel zerstört. Und keine Versicherung hat es bezahlt. Ich wusste mir nicht mehr zu helfen und verständigte Antonio, der unten im Ort war. Er sagte: ‚Ruf die Carabinieri an!’ Das habe ich getan. Es kam ein Trupp von zwölf Leuten, und der Capitano war ein Pantani-Fan."

 

Marco war im Zimmer 27 untergebracht. Es ist ein einfaches Zimmer im zweiten Stock, mit einem Doppelbett und sonst nichts. Die Mannschaft hatte befürchtet, Tifosi könnten über einen Balkon in Pantanis Zimmer eindringen, darum wollte sie das einzige Zimmer ohne Balkon. Manuela Ronchi schreibt: „Keiner traute sich, in sein Zimmer mit der Nummer 27 zu gehen. Ich klopfte an und trat ein. Marco saß auf einer Art niedriger Kommode, die an der Wand lehnte. Er lächelte mich an, und ich spürte unwillkürlich seine Angst, er könnte mich enttäuscht haben. Er sagte mir: ‚Manu, hast du gesehen, was passiert ist?’“ – Später kommt sie mit Marcos Vater in sein Zimmer, und Pantani hatte vor Wut das Fenster zertrümmert, und seine Hand blutete. Auch daran erinnert sich Elena.



Das karge Hotelzimmer der Nummer 27 im zweiten Stock des Touring-Hotels, das Marco


„Die vielen Menschen, draußen und drinnen. Dann kamen die Carabinieri. Sie sorgten für Ordnung, machten Platz. Pantani sollte herunterkommen. Aber er hatte keine Lust. Dann haben sie ihn überredet, und er kam mit dem Aufzug herunter. Er stand unter Schock, er knickte sogar ein, und so mussten ihn zwei Carabinieri stützen, ihn unter die Arme fassen ... Und Journalisten haben dann geschrieben, man habe Pantani ‚abgeführt’! In Wirklichkeit hat man ihm nur geholfen, weil er nicht mehr konnte. Es war eine Stimmung wie beim Weltuntergang, fürchterlich.“



„Ich erinnere mich, dass wir ihn am Arm den Korridor entlang bis zum Aufzug führten“, schreibt Manuela Ronchi. „Sein verängstigter Gesichtsausdruck erinnerte mich an meinen spontanen Eindruck bei der ersten Begegnung: ein Küken. Er wirkte benommen, sprach nicht, und sein Blick glitt umher, hoffte, auf den rettenden Einfall zu stoßen oder auf jemanden, der ihm sagen würde, was er tun sollte.“ Draußen vor dem Hotel die vielen Mikrofone, und Marco Pantani findet eine Erklärung: „Nach einer derartigen Lektion muss ich schweren Herzens sagen, dass es mich schon nachdenklich stimmt, wenn so etwas einem Sportler wie mir geschieht. Ich hatte das Rosa Trikot, bin zweimal kontrolliert worden, zuletzt hatte ich einen Hämatokritwert von siebenundvierzig, und nun wache ich mit dieser grausamen Überraschung auf. Das stimmt irgendetwas nicht. Wieder Rennen fahren nach so einem Schlag ...“

 

Und ein Schlag war es. Es war wie ein Fallbeil. Warum? Weil Marco in seiner Unschuld die Etappe gewonnen hatte, statt sie dem Richard Virenque zu überlassen? Weil er zu beliebt war? Weil er die Doping-Kontrollen des Nationalen Olympischen Komitees abgelehnt und sich für die des internationalen Radsportverbands UCI stark gemacht hatte? Weil er ein verlockendes Angebot der Mannschaft Mapei abgelehnt hatte? Die Mercatone uno deutete bei einer Pressekonferenz in Monte del Ré ein Komplott an, doch man hatte keine Beweise. Das war unklug. Das Imperium ist stark.

 

Der Radsport ist hierarchisch aufgebaut und basiert wie eine archaische Familie auf ehernen Codizes. Du sollst nicht größer sein als der Radsport; du sollst dir keine Feinde machen; du sollst die ungeschriebenen Regeln achten. Wer gegen die Gebote verstösst, wird selbst verstoßen. Jaksche und Sinkewitz wissen das. Pantani hat am teuersten bezahlt. Aber er hatte nicht die Persönlichkeitsstruktur, erfolgreich und alleine gegen das Imperium kämpfen zu können. Elena:„Marco war ein zerbrechlicher Mensch.“ Man hat das Gefühl, Pantani sei in der Folge auf eine Abschussliste gesetzt worden. Sieben Staatsanwaltschaften ermittelten in den nächsten Jahren gegen ihn. Er hatte nichts als Probleme.



Marcos Abreise

Die Nachricht von Marcos zweiwöchiger Sperre, die eingeschlagen hatte wie eine Bombe, war um neun Uhr gekommen. Am späten Vormittag verließ Marco Pantani das Hotel. Die Polizisten öffneten ihm eine Gasse. Am Steuer des Autos saß der Sportliche Leiter Beppe Martinelli, und ein Wagen der Carabinieri begleitete sie. Martinelli (im Buch): „Im Auto von Madonna di Campiglio weg haben wir beide hunderte Kilometer geweint. Und Marco weinen zu sehen, war wirklich etwas Ungewöhnliches. Das einzige, was er mir sagte, war: ‚Martino, lass mich jetzt in Ruhe, denn ich fahre keine Rennen mehr.’“



Im Hotel wurde schnell eine improvisierte Pressekonferenz im Speisesaal einberufen. Elena und Antonio klagen: „Diese Journalisten! Der ganze Speisesaal war voll, alle haben gedrängt, sie haben uns 15 Stühle ruiniert, die mit der geflochtenen Sitzfläche, weil sie sich darauf gestellt hatten.“ Antonio hatte die aggressivsten Journalisten zur Rede gestellt, und die antworteten: „Wir tun ja bloß unseren Job.“

 

Es war der Tag der großen Bergetappe gegen Ende des Giro d’Italia. Von Madonna di Campiglio hinunter, über den Passo Tonale (1884 m), rechts hoch den Gavia (2000 Höhenmeter), hinunter und wieder hoch den Mortirolo (1891), Zielort Aprica mit dem gleichnamigen Pass. Erster oben war Roberto Heras. ... Und Marco Pantani saß in einem Auto, das Beppe Martinelli Richtung Süden lenkte, auf der Autobahn in Richtung Verona und Modena. Juli, die heiße, öde Poebene. In Imola, 60 Kilometer von Cesenatico entfernt, wurde Marco noch einmal in einem Labor Blut abgenommen. Ergebnis: unter dem Grenzwert von 50. In einer Pressemitteilung forderte der Patron von Mercatone uno, die Arbeit der beiden Labors miteinander zu vergleichen. Pantani kam heim. Er betrat seine Villa und war wieder ein Gefangener, genau wie im Hotel in Madonna di Campiglio. Journalisten campierten um das Grundstück herum und hatten sogar Richtmikrofone aufgestellt.

 

Ach, egal. Den Giro 1999 gewann übrigens Ivan Gotti, der schon 1997 triumphiert hatte. Zweiter wurde Paolo Savoldelli, der „Falke“, der sich den Giro dann 2002 und 2005 holte. Er war bei der Kontrolle in Madonna di Campiglio mit einem Wert von 49,9 gerade noch einmal davongekommen. Ich machte ein paar Fotos, verabschiedete mich von den netten Eheleuten, zog als Hommage an den Piraten mein Rosa Trikot über (auf dem klein „Gazzetta dello Sport“ steht) und fuhr hinunter. Da der obere Tunnel gesperrt war, gab es mehr Verkehr. Ein Verkehrsposten winkte mich links vorbei, und ich fuhr eine kleine Straße hinab, die immer enger wurde und Anstalten machte, sich als Holperpfad am Friedhof vorbeizuschleichen. Am Friedhof.

 

Wieder zurück und auf die normale Straße. Unten in Pinzolo (770 m) legte ich eine Pause ein. Die große Runde war längst abgehakt. Ich wollte von Pinzolo nach Madonna di Campiglio hoch, so wie Pantani damals gefahren war, weit vor der Meute. Sie waren mittags von Predazzo losgeradelt, in südwestlicher Richtung bis Trento, weiter nach Tione und Pinzolo, wo gleich das Campiglio-Tal beginnt. „Der Anstieg ist hart, der macht dir deinen Rhythmus kaputt“, hatte Bruno gewarnt. Es wurde auch ein schöner, harter Anstieg bei über 30 Grad, aber ich denke nicht daran, mich zu verausgaben; ich fahre stetig hoch, in einem guten Rhythmus.



Der Giro führte oft über den Mortirolo. Hier steht: 'Ciao Panta Cr. è qui.' Ein Fan wollte Marco (Panta) sagen, dass seine Freundin (Christine) hier sei.


Marco Pantani. Himmel und Hölle. Vielleicht war er an jenem 4. Juni 1999, als er lässig nach Madonna di Campiglio hochfuhr, „kein Ich und keinen Gegner habend“ (Chissai Shozan), auf dem absoluten Höhepunkt seiner Karriere. Er hätte den Giro auch über die Pässe Tonale, Gavia und Mortirolo in Rosa geführt und auf dem Aprica an jenem 5. Juni von mir aus Roberto Heras gewinnen lassen, der auch so die Etappe gewann. (Heras war vier Jahre jünger als Pantani und verdienter Helfer von Lance Armstrong. Sein Schicksal ereilte ihn 2005, als er ihm der Sieg bei der Vuelta, sein vierter, wegen EPOs aberkannt wurde: zwei Jahre Sperre und Ende der Karriere.) Die Ronchi im Buch: „In dem Augenblick war sein (Marcos) grösster Kummer, den Giro d’Italia nicht gewonnen zu haben. Er konnte noch nicht wissen, was noch alles auf ihn niederprasseln, ihn in den Abgrund stürzen würde.“

 

Ich war an der Steigung, etwa einen Kilometer vor dem Ort, und rechts von mir zog sich eine blecherne Leitplanke hin, an einer Stelle geknickt, und aus ihrer Richtung machte es plötzlich vernehmlich „Zong!“ Ein metallisches Krachen. Ich fuhr weiter. Sicher war das Material durch die Hitze irgendwie in Spannung geraten, die sich gelöst hatte. Jedoch weiß ich auch, dass Geister gerne klopfen. Sie wollen sich bemerkbar machen. Ich hatte ja den ganzen Tag an Marco Pantani gedacht. Wollte er mir sagen „Sono qui!“? Ich bin da! Möglich.

 

Auf der anderen Seite zischte ich dann hinunter, als wäre ich ein anderer: ohne Angst, ohne viel zu bremsen. Heiliger Marco, Großer Pirat, bleib bei uns, hilf uns bei den Abfahrten und melde dich mal wieder!


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