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Historisches



Hochradreise 1884: Sachsen-Neapel und zurück

Text von Hans-Erhard Lessing, erstmals erschienen in<br><a href="http://historische-fahrraeder.de/vereinszeitschrift/archiv-knochenschuettler.html">>>> Knochenschüttler 12, Frühjahr 1998</a>



Lyman Hotchkiss Bagg (1846 - 1911), Bibliothekar und Junggeselle in New York, hat 1887 unter seinem Pseudonym Karl Kron das mit 800 Seiten dickste Fahrradbuch geschrieben: Ten Thousend Miles on a Bicycle. Der 1982er Reprint dieser Fundgrube hauptsächlich für amerikanische Fahrradgeschichte durch Emil Rosenblatt, Croton-on, Hudson (N.Y.) ist noch erhältlich. Bagg sammelte Daten von Streckenrekorden, darunter auf Seite 551 auch denjenigen vom Herbst 1884 aus den Hamburger Nachrichten:

 

... Hugo Barthol, gebürtig aus Sachsen, beendete kürzlich seine Hochradreise von 2800 Meilen in 11 Wochen. Er fuhr von Gera nach Neapel, wobei er runterwärts die Westküste von Italien und raufwärts die ganze Länge der Ostküste abfuhr. Zweimal bewältigte er die schwierige Aufgabe der Überquerung des Apennin. In größeren Städten blieb er drei bis sechs Tage. Dies ist der bislang bemerkenswerteste Rekord."

 

Bagg kommentiert, dass die Meldung den Eindruck vermittele, dass der Tourist eine ununterbrochene Rundfahrt unternommen habe, tatsächlich sei er dreimal in den Zug und einmal aufs Dampfschiff gestiegen, wobei er 3799 km auf dem Hochrad und 630 km auf der Schiene, also insgesamt 4429 km oder 2750 Meilen, zurückgelegt habe. Offenbar sei er von Gera bis Neapel ohne Unterbrechung gefahren, was vermutlich die längste Distanz in Europa gewesen sei, bis Thomas Stevens im Frühsommer 1885 die noch längere Etappe (seiner Weltumrundung) von Dieppe nach Konstantinopel zurückgelegt habe. Und er fährt fort, dass er dem CTC-Konsul in Berlin, T. H. S. Walker (Herausgeber des vierzehntägigen Radfahrer, Krausenstr, 18, Berlin-W) den nachfolgenden Auszug aus dem Berichtsmanuskript verdanke, das Herr Barthol, ein Bekannter von jenem, auf seine Bitte eingesandt hätte, wiewohl es in dem Blatt nicht veröffentlicht wurde:



Wolf's Radfahrer-Karte
eine von 11 bis 1891 erschienenen Karten
Ausschnitt

.. Die Idee zu einer Tour nach Italien kam ihm zuerst, nachdem er eine Fahrt nach Deutschland und Holland gemacht hatte (1. Mai bis 14. Juni 1882), aber er konnte sie erst zwei Jahre später ausführen. Da eine gewöhnliche m[ultum]-i[n]-p[arvo]*-Tasche nicht genug für eine 12-Wochen-Fahrt fassen konnte, lud er auch ein Bündel auf den Lenker, wobei beides zusammen 13 kg wog. Er fuhr ein 56-zöller HOWE von 20 kg und wog selber 68 kg, zusammen also 88 kg.

 

Er verließ Gera am 18. Juni um 6 Uhr morgens und fuhr bis Auma. Die Übernachtungsplätze danach waren am 9. Saalfeld, 10. Meiningen, 11. Fulda, 12. Frankfurt, 13. Mainz, (am 14. besuchte er das Niederwald-Denkmal), 15. Mannheim, 18. Straßburg (via Heidelberg und Speyer), 20. Freiburg, 22. Basel, 23. Schaffhausen, 24. Konstanz, 25. Zürich. In der Schweiz traf er nur sehr gute Straßen und in Zürich einen Freund, den er überredete, nach Italien mitzufahren. Nach kurzem Aufenthalt in Zürich fuhren sie über den St. Gotthard und kamen am 29. in Airolo an, 30. in Bronico und 1. Juli in Mailand, das sie am 3. verließen und am 4. Turin. Über hohe Bergkämme fuhren sie 6. und 7. nach Genua, verließen es am 9. und erreichten über Spezia und Pisa am 12. Florenz, verließen es am 16. und gelangten nach schwerer Fahrt am 20. nach Rom. Dies war eine Strecke mit vielen steilen Hügeln, wo über Distanzen von 30 km kein Wasser zu haben war. In der starken Hitze fanden sie Linderung durch tragen nasser Kleider um den Kopf.

 

Nach einem Ruhetag fuhren sie über die Albanerberge und mußten eines Nachts mitten in den Pontinischen Sümpfen zelten. Am 26. erreichten sie Capua 10 Uhr abends, am 27. fuhren sie in ihr Reiseziel Neapel hinein. Sechs Tage wurden mit Besichtigung der Inseln Sochia und Capri, sowie von Vesuv und Pompeji verbracht.



Beispiel eines Hochrades.
Ernst Sachs 1891,
Gründer von Fichtel&Sachs, als Mitglied des Frankfurter Radclubs (ursprünglich F&S-Archiv, hier Archiv H.-E. Lessing).

Am 2. August fuhren sie dann nach Grotto und verursachten dort einen Auflauf von 1000 Leuten vor ihrer Absteige. Am 3. wurde Foggio erreicht, schlugen dann die falsche Richtung ein und kamen nach Serra Capriola an der Adria, von wo sie, da die Straße endete, den Zug nach Pescara nehmen mußten. Von dort radelten sie die Küste entlang nach Ancona am 7., Rimini 9. und Bologna am 11. und besteigen dort wegen Erschöpfung durch die intensive Hitze (obwohl sie meist nachts gefahren waren) den Zug nach Venedig.

 

Hier verließ Barthols Freund die Partie, und Barthol selbst bestieg den Dampfer nach Triest. Am 17. fuhr er nach Miramare und zurück, und fuhr am 18. von Triest aus in sechs Tagen über Karrthia, Steiermark und den Semmering nach Wien am 23. ein. Von dort nahm er am 28. wegen schlechten Wetters den Zug nach Prag. Er fuhr über das Erzgebirge am 30. nach Chemnitz und kam in seiner Heimatstadt Ronneburg nahe Gera am 31. um 5 Uhr abends an. Er litt danach schwer an Wechselfieber."



Bagg ergänzt noch, dass das beiliegende Foto (von Oskar Vogel in Ronneburg) einen bartlosen Jugendlichen mit Brille zeige, der neben einem schlammbespritzten Hochrad stehe, das vorn und hinten mit großen unförmigen Taschen beladen sei. Er trage einen runden Hut, offenbar aus Filz, der ein Halstuch überdecke, das Kopf und Hals bedecke, und seine Fahrjacke sehe einem Bauernkittel recht ähnlich.

 

Vielleicht ist die volle Geschichte dieser Rekord verdächtigen Tour in einer anderen Radzeitung abgedruckt worden oder noch mehr über Hugo Barthol (vielleicht Druckfehler für Barthel?) in örtlichen Archiven zu finden.

 

* lat: Viel in Kleinem



 

Prof. Dr. Hans-Erhard Lessing ist Autor der Biografie Automobilität, Karl Drais und die unglaublichen Anfänge.


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