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die Rolle der Ärzte im Dopingkomplex und Suchtproblematik



1981 André Noret: Die Rolle des Mediziners im Antidoping-Kampf

Der belgische Sportmediziner André Noret begann bereits in den 1950er Jahren mit Sportlern zusammen zu arbeiten. Neben seiner Tätigkeit als frei praktizierender Arzt übte er im Laufe der Jahrzehnte verschiedene Funktionen im Namen von Sportorganisationen aus. So war er Verbandsarzt und offizieller Arzt der belgischen Rad-Nationalmannschaft. Im Rahmen dessen war er auch verantwortlich für Dopingkontrollen. Er gilt als profunder Kenner der Dopingszene, insbesondere der Radsportszene, der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts. Das Thema Doping begleitete ihn während seiner gesamten sportmedizinischen Karriere. Noret stellte sich früh gegen die Dopingpraktiken, sah aber auch viele Schwierigkeiten des Antidopingkampfes und die Zwickmühlen, in denen sich der Sportler befinden konnte. Insbesondere hinterfrug er die verschiedenen Rollen des Sportmediziners, die den Arzt nicht selten vor schwierige Entscheidungen stellten.



André Noret:
"Dieses Buch wird nach einem Jahr erscheinen, indem viele Großereignisse des Sports stattfanden. Einem Jahr mit den Olympischen Spielen von Lake Placid, den Fußball-Europa-Meisterschaften, den Olympischen Spielen von Moskau, der Tour de France, den großen Tennis-Tournieren und den Rad-Weltmeisterschaften. Einem Jahr, in dem mehr als zweitausend Dopingkontrollen in den verschiedensten Disziplinen durchgeführt wurden. Mehr als zweitausend, die alle negativ waren... Mehr als zweitausend, die beweisen, dass das Doping ein extrem gefährliches Ausmaß erreicht hat. Mehr als zweitausend, die zeigen, dass "Le Dopage" geschrieben werden musste..."

>> Inhaltsverzeichnis

1981 veröffentlichte André Noret das Buch 'Le Dopage' (Doping), in dem er den aktuellen Stand der Dopingregelungen und Dopingdiskussion vor belgischem und französischem Hintergrund beschrieb. Breiten Raum nehmen darin seine eigenen Erfahrungen und Meinungen ein. Für Noret fällt dem Mediziner die entscheidende Rolle im Antidopingkampf zu. Denn nur er sei letztlich in der Lage zu entscheiden, wo die Gesundheitsgefahren liegen und wie Sportler gesund zu erhalten sind. Für Noret ist die medizinische Ethik richtungsweisend, die Sportethik habe sich unterzuordnen, zumal diese in weiten Bereichen vage ist und an vielen Ecken und Enden mit Füßen getreten werde. Diese Medizinische Ethik hält jedoch in der Praxis einige Fallen bereit. Mit den Dopingreglements und den damit verbundenen Einschränkungen der Arbeitsausübung und dem Verbot von Medikamenten, die häufig nach ärztlicher Meinung therapeutisch wichtig seien, wurde seiner Ansicht nach ein falscher Weg eingeschlagen, der u.U. sogar dem Sportler fundamentaler Rechte beraubt, die anderen Bürgern zustehen. Er selbst müsse sich zwar dem Reglement unterwerfen, doch dies bringe ihn in einen schweren Konflikt gegenüber seinem beruflichen Anspruch. Nach Noret hat das repressive Kontrollsystem versagt. Doping ist seiner Meinung nach ausschließlich ein medizinisches Problem, das nur Mediziner lösen könnten, denn der Sport leide an einer schrecklichen Krankheit. Noch sei es möglich eine Heilung herbei zu führen, dazu sei es aber unbedingt nötig, dass sich alle Parteien wie Fahrer, Funktionäre, Veranstalter, Trainer, Journalisten zusammen setzten, die Heuchelei aufgäben und unter Leitung der Medizin Gegenstrategien entwickelten. Noret legt hierbei den Schwerpunkt auf präventive Maßnahmen und möchte die bestehenden repressiven zurück nehmen.

 

Der folgende Text ist eine Zusammenfassung des Kapitels 'Rolle des Mediziners im Antidoping-Kampf'. In anderen Kapiteln erläutert er seinen oben kurz angerissenen Standpunkt ausführlicher, diese werden aber von mir hier nicht weiter vorgestellt. Die persönliche Beschreibung von Noret behielt ich bei, auch wenn nun einiges verkürzt dargestellt wird.



André Noret: Die Rolle des Mediziners im Antidoping-Kampf

Auszüge aus den Ärzteordnungen 1965 und 1967 gültig in Bezug auf das Franz. Antidoping-Gesetz.

Theoretisch ist der Platz des Sportmediziners an der Seite des Patienten. Doch in der modernen Gesellschaft entstand eine neue Kategorie von Medizinern. Sie üben Funktionärs-Funktionen aus und sind Kontrolleure im Namen des Staates, von Kommunen und von Versicherungsgesellschaften. Auch innerhalb der Sportwelt arbeiten Mediziner für Ministerien oder federale Gremien.

Im Antidopingkampf sollten ihnen folgende Aufgaben zugeteilt werden:

- Durchführung unabhängiger Aufklärungskampagnen über die Gefahr von Dopingsubstanzen

- Aufsicht über die Verordnung und Überarbeitung der Verbotslisten unter Berücksichtigung der therapeutischen Freiheit von Ärzten und des Rechts des Sportlers auf umfassende medizinische Versorgung

- die Durchführung von Doping-Kontrollen unter maximaler Berücksichtigung der Würde des Sportlers, der sich der Prozedur unterziehen muss.

 

Der Antidopingkampf muss vor allem Aufklärung sein. Die Ministerien und die Sportverbände müssen dafür ausreichend finanzielle Mittel zur Verfügung stellen. Denn Doping ist vergleichbar mit einer schweren ansteckenden Krankheit. Entsprechend aufrichtig und nachdrücklich müssen daher die Sportler aufgeklärt und über Therapiemöglichkeiten unterrichtet werden.

Auch wenn Mediziner verschiedene Rollen ausüben, sollten sie doch ihren Patienten gegenüber verpflichtet sein. Patienten, Sportler, sind nicht immer Betrüger sondern häufig selbst Betrogene. Der Arzt muss helfen, beraten, aufmuntern und die bestmöglichste medizinische Behandlung anbieten. Der Antidoping-Kampf gehört hier in den Bereich der Prävention. Betroffen sind die Haus-, die Sport- und die Teamärzte.



I. der Hausarzt

Häufig ist der Hausarzt der erste oder gar der einzige, den der Sportler konsultiert. Im Antidoping-Kampf spielt der Hausarzt oft nur eine untergeordnete Rolle, da er nur wenig Zeit für Gespräche mit den Patienten zur Verfügung hat. Zudem kann man verstehen, dass er wenig Muse hat, sich mit den gesetzlichen und sportinternen Regelungen auseinander zu setzen. Er weiß zwar, dass Doping verboten ist, doch kennt er die Listen nicht und wendet daher weiterhin die Medikamente seiner Wahl an. Darunter sind dann häufig auch verbotene. Ich legte 51 Hausärzten eine Liste mit 20 Produkten vor. Die Ärzte sollten angeben, welche davon sie für Dopingprodukte hielten. Vitamine und Amphetamine wurden richtig eingestuft, doch bei den anderen war das Wissen gering. Daher ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass ein positiver Befund auf eine medizinisch angemessene Verschreibung zurück geht.



II. Der Sportmediziner

"70 % der französischen Hochleistungsathleten sind gedopt!"
Diese Zahl wurde anlässlich des Sportmediziner-Kongresses 1980 in Nizza vor laufender TV-Kamera genannt. Diese Zahl wurde in zahlreichen westlichen Ländern von Sportlern, Trainern und Medizinern diskutiert. Von den meisten Kennern wurde diese Zahl als guter Durchschnitt bezogen auf die verschiedenen Sportarten angesehen. Ich selbst [Noret] gehe davon aus, dass mehr als 90% der Sportler wenigstens einmal pro Jahr ein Medikament einnehmen, das auf der Verbotsliste steht obwohl es kein Doping ist, obwohl es keinerlei leistungssteigernde Wirkung hat."

Nach einer Untersuchung der Hochleistungssport-Kommission, die anonym durchgeführt wurde, nehmen in einigen Disziplinen ca. 70% der französischen Sportler anabole Steroide. Diese Zahl ließ einige Teilnehmer des Endokrinologen-Krongresses 1979 in Athen davon sprechen, dass die Medaillen der Olympischen Spiele von Moskau den Sportlern mit den besten Endokrinologen geschuldet seien.

Zahlreiche Sportler, insbesondere der höchsten Leistungskategorie, arbeiten mit Ärzten zusammen, deren Rolle weitreichend und komplex ist, denn sie müssen sich gleichzeitig um die Dauer und den Fortschritt in den Trainingsperioden als auch um die physischen und biologischen Anforderungen der verschiedenen Wettkämpfe kümmern.

Mittlerweile bauen viele Sportler auf ein Zusammenspiel von Trainern-Medizinern-Sportlern (Erfolgsdreieck).

Daraus ergibt sich für den Mediziner, auch wenn er nicht Vollzeit engagiert ist, dass er in Hinsicht auf die Sportlerkarriere eine aktive und häufig auch bestimmende Rolle einnimmt.



Früher oder später muss sich der Arzt dann mit Dopingfragen beschäftigen.

Schon in den 50er Jahren, als der Antidopingkampf begann, gab es Ärzte, die Dopingmittel verschrieben haben, aber die Häufigkeit steht in keinem Verhältnis zu der aktuellen Praxis. Aus Gesprächen mit Radsportlern lässt sich folgern

- eine Minderheit benutzte Amphetamine mit ärztlicher Verschreibung

- die große Mehrheit erstand die Stimulanzien über die Pfleger (Soigneurs)

- wieder andere beschafften sie sich über Kollegen/Konkurrenten

 

Die Fahrer der letzten beiden Kategorien dürften keine Kenntnisse über die gesundheitlichen Gefahren, denen sie sich auslieferten, gehabt haben. Ebenso wenig wussten sie die Höhe der Dosierungen einzuschätzen. Ein Fahrer hatte mir berichtet, dass er gewöhnlich 6 bis 7 Maxiton vor einem Rennen einnahm. Als ihm einmal eine Mischung aus 50 ctg Phytin und 50 ctg Vitamin C angeboten worden war, nahm er das Angebot nicht an, da er meinte die Menge sei zu hoch und damit zu gefährlich. Festzuhalten ist zudem, dass Amphetamine 1950 in den meisten Ländern frei käuflich waren.

 

Wenn die Verbände damals Doping hätten unterbinden wollen, hätte es genügt, die Pfleger/Soigneurs aus den Radteams zu verbannen und die Sportler aufzuklären (erzieherisch ein zu wirken). Aber das hätte viel Mut verlangt. Da war es einfacher, Reglements und Kontrollen unter der Aufsicht von Ärzten einzuführen. Und sich anschließend an Schein-Statistiken zu berauschen. Dies hat in den letzten 20 Jahren zu der ernsten, sehr ernsten Situation von heute geführt. Vielleicht lässt sich in der Zukunft etwas verbessern, dazu müssen die Verantwortlichen aber willens sein, etwas zu ändern.

 

Beginnen muss der Antidoping-Kampf in den Praxen der Sport- oder Haus-Ärzte.

Er ist auf drei Ebenen zu führen:

- Bildung/Information: Der Sportmediziner muss die Regeln und Gesetze der verschiedenen Länder kennen. Darüber hinaus muss er die Sportler informieren und diese über die Gefahren und Nebeneffekte aufklären. Er muss auch vor möglichen Medikamenten warnen, die ihm von Seiten seines Umfeldes oder seine Kollegen angeboten werden.

- Abschreckung: Doping ist hoch ansteckend, es erreicht früher oder später die Mehrzahl der Sportler. Sobald der Sportler daran zweifelt, dass er ohne verbotene Mittel seinen Sport ausüben kann, muss der Mediziner versuchen ihn vom Gegenteil zu überzeugen und ihm andere Wege aufzeigen, seine moralische und sportliche Kompetenz einsetzen, auch wenn er wahrscheinlich scheitern wird.

- Berufliche Beschränkung: der Arzt befindet sich in einem Dilemma, das er für sich lösen muss: entweder er verhält sich gesetzeskonform und verweigert die Verschreibung oder er landet in der Illegalität, sobald er ein verbotenes Medikament verschreibt.

 

Eigentlich ist solch eine illegales Verhalten nicht vereinbar mit der Ethik der Mediziner, auf die sie stolz sind. Dennoch ziehen es einige Kollegen vor, illegal zu handeln, da sie meinen, so besser die Gesundheit der Sportler erhalten zu können. Dieses Verhalten ist auf dem ersten Blick vernünftig, denn so bekommt der Arzt einen genauen Überblick über alle Substanzen, die der Sportler zu sich nimmt und kann somit besser Überdosierungen verhindern.



Ich [Noret] selbst, der ich das Gesetz, wie die meisten meiner Kollegen respektiere, stehe nun passiv einer Entwicklung gegenüber, in der immer mehr gefährliche Produkte genommen werden. Was kann man dagegen tun? Eigentlich nichts außer sich selbst immer auf dem Laufenden zu halten, was nicht immer möglich ist, und immerzu warnen. Zudem werden Ärzte mit dieser Einstellung von Sportlern nicht mehr ernst genommen. Sie sprechen ihnen Kenntnisse über Doping ab und nehmen die Warnungen nicht ernst. Sie glauben eher dem Kollegen, der die Mittel verschreibt und dabei vor Nebenwirkungen und Überdosierungen warnt. In jedem Falle muss der Arzt sehr viel Zeit aufbringen. Er muss immer versuchen den Sportler zu verstehen, wenn er ihm innerhalb eines Umfeldes helfen will, das Doping begünstigt und verlangt.

 

Die Soigneurs sind die eigentlichen Gegner der Ärzte. Hinter ihrer freundlichen Fassade sind sie zudem die wahren Feinde der Sportler. Feinde, die auch schon für den Tod einiger Sportler verantwortlich waren. Auf einige Sportler üben sie großen Einfluss aus. Gefährlich sind sie vor allem aufgrund ihrer Inkompetenz, Unwissenheit und Skrupellosigkeit.



III. der Club/Vereins- oder Team-Arzt

Kontrollergebnisse 1966 bis 1976 in Frankreich und Belgien

"1979 wurde in in Belgien kein einziger Profisportler (Radsport) sanktioniert. Gleichzeitig hatte jedoch der Gebrauch von Corticosteroiden und Anabolika einen Höchststand erreicht ebenso wie die Entwicklung anderer Betrugsmethoden."

Viele Jahre lang behandelten Club-Ärzte lediglich akute Verletzungen. Mittlerweile stehen gut organisierten Vereinen und Verbänden Ärzte für weitere Aufgaben zur Verfügung. Damit kommt ihnen auch eine Rolle im Antidoping-Kampf zu.

Die Ostblockstaaten und einige große Vereine im Westen profitierten von einem Medizinerkader einschließlich anderem medizinischen Personal, das ihnen rund um die Uhr zur Verfügung steht.

Die Rolle dieser 'full-time'-Mediziner ist jedoch in der Sportwelt umstritten. Sowohl Journalisten als auch Sportliche Leiter, Trainer, Fans und selbst Sportler werfen ihnen vor, vor allem Mediziner zu sein, die von der Vereinsleitung abhängig sind. In Dopingfragen ließen sie daher oft schnell ihr medizinische Gewissen hinter sich.

Im Rahmen der Antidopingkampagnen ist die Rolle dieser Mediziner viel schwieriger und heikler, als es auf den ersten Blick erscheint. Der Dialog zwischen dem Sportler und dem Arzt entwickelt sich im Allgemeinen langsam, der Sportler zeigt sich anfangs häufig reserviert und er gibt wenig preis. Diese Schwierigkeiten nehmen zu, wenn der Sportler zu einem Arzt gehen muss, den er nicht selbst ausgewählt hat. Ob es dann zu einem offenen Dialog kommt, hängt wesentlich von den Persönlichkeiten beider Seiten ab, aber auch von der glaubhaften Vertraulichkeit, die der offizielle Arzt dem Sportler entgegen bringen kann.

Oft bleiben die Sportler diesen Ärzten gegenüber distanziert und misstrauisch. Die diesen Ärzten unterstellte Abhängigkeit untergräbt generell deren Glaubwürdigkeit und lässt sie leicht zu Sündenbocken werden, wenn Sportler positiv getestet werden und behaupten, sie hätten doch nur eingenommen, was ihnen der Arzt verschrieben habe. Die Presse stürzt sich dann auf sie, zweifelt ihre Integrität an, während sie sich auf Grund des Arztgeheimnisses nicht verteidigen können.

 

"Während vieler Jahre war ich Arzt der belgischen Rad-Nationalmannschaft bei Weltmeisterschaften. Ich begleitete Bahnrad-, Straßen- und Querfeldeinfahrer der Spitzenklasse. Manche betreute ich nur einmal, andere über Jahre hinweg. Ich versuchte mit allen über Doping zu sprechen und erkundigte mich nach den Therapien. Manchmal führte ich einen fruchtlosen Monolog, denn manche behaupteten nichts über Doping zu wissen, niemals eine Arzt zu konsultieren, keine Medikamente ein zu nehmen während doch ihre Gesäßmuskulatur etwas völlig anderes erzählte.

Andere meinten, sie nähmen nur Vitamine, stellten aber Fragen zur Wirkungsweise, Gefährlichkeit und Nebenwirkungen von Produkten, die ihre Konkurrenten nähmen. Damit versuchten sie ihr Wissen zu vervollständigen und zu überprüfen und mich als Arzt zu testen. Nach einigen Jahren mit solch einem Verhalten gingen einige Fahrer dazu über, offen mit mir zu sprechen, selbst darüber, wie sie positive Dopingkontrollen umgingen.

Einige Fahrer, teils die besten und oft die intelligentesten, baten mich in ihr Zimmer, schlossen die Türen doppelt ab um dann andächtig einen Diplomatenkoffer zu öffnen, der gefüllt war mit Medikamenten aus aller Herren Länder."

 

Dieses unterschiedliche Verhalten zeigt, wie schwierig, wie delikat die Rolle eines Teamarztes im Antidoping-Kampf ist. Einerseits verdächtig, andererseits toleriert, verdient der Mediziner oft die Vorwürfe nicht, denen er sich ausgesetzt sieht, denn häufig kennt er das wahre Ausmaß des Dopings innerhalb des Teams nicht. Häufig muss er für Praktiken gerade stehen, die er nicht kennt und missbilligt. Nichtsdestotrotz kann es ihm aufgrund seiner Anwesenheit im Laufe lang andauernder Wettkämpfe gelingen, das Vertrauen der Sportler zu gewinnen. "Dazu braucht er eine starke Persönlichkeit, er muss kompetent sein und verständliche Ratschläge geben, zudem muss er die Sportlerpsyche verstehen. So kann er eine Rolle innerhalb des Teams einnehmen, die ihm erlaubt einerseits die Geheimnisse der Athleten zu erfahren und andererseits mit Autorität seine Meinungen vertreten zu können. Damit wird von ihm mehr verlangt, als von dem privaten Arzt eines Sportlers. Er muss vernünftig und objektiv sein und vielleicht Alarm schlagen, wenn der Sportler seinen Giftkoffer öffnet."



IV. Der Mediziner und die Organisatoren von Sportveranstaltungen

Den meisten Sport-Veranstaltungen sind Mediziner oder ein medizinischer Dienst zugeordnet. Oft haben während des Ablaufs des sportlichen Wettbewerbes Teamärzte keine Möglichkeit, ihre Sportler zu betreuen. So bspw. bei den Olympischen Spielen und der Tour de France, wo die Teamärzte nur im Olympischen Dorf oder den Hotels praktizieren dürfen.

Die Tour de France als eine der größten Veranstaltungen der Welt, hat einen großen und guten medizinischen Dienst, der aber für alle Notfälle, Unfälle von Fahrern ebenso wie unter den Mitgliedern der Werbekaravane zuständig ist. Da bleibt wenig Zeit und Kapazität für präventive Antidopingmaßnahmen. Insbesondere auch, da die Beziehungen zu den Fahrern distanziert sind und sich nur ganz wenige von ihnen im Kontakt mit den Ärzten öffnen. Und die Fahrer, die offen für Gespräche sind, sind meist diejenigen, die keinen Rat benötigten, da sie diesen auch anderswo erbitten und erhalten.

 

"Man kann den Ärzten des medizinischen Dienstes keine Verantwortung zuschieben. Häufig haben sie überhaupt keine Zeit, sich um die Fahrer zu kümmern, zudem sind sie oft in weit entfernten Hotels untergebracht. Im Allgemeinen verbleiben dem Fahrer 5 Stunden zwischen dem Aufsuchen seines Zimmers und dem Schlafengehen. Da bleiben selbst dem Teamarzt in der Regel nur 2 Stunden für seine Radsportler.

Daher spielt der Mediziner, der einem medizinischen Dienst einer Veranstaltung angehört, nur eine untergeordnete Rolle im Antidopingkampf. Zudem muss man sagen, dass die Beziehungen zwischen Ärzten der Organisatoren und den Teamärzten häufig angespannt sind."

Am 18.7.1980 z. B. erhob Philippe Miserez, Chefmediziner bei der Tour de France im TV Sender T.F.1 und in l'Équipe Vorwürfe gegenüber Teamärzten in Bezug auf die chronische Anwendung von Corticosteroiden. Dabei nahm er die Fahrer in Schutz, den sie wüssten nicht mehr, wem sie glauben sollten. Es seien doch auch Mediziner, die sie verschrieben, wieso solle man jetzt Miserez und anderen glauben. Miserez: "Definitiv, ich meine, dass die Fahrer keine Ärzte benötigen, außer zur Vorsorge oder bei akuten Unfällen. Die Fahrer brauchen keinesfalls dauernd Mediziner um sich. Diese haben zur Zeit eine große Last an Verantwortung zu tragen. Am Schlimmsten ist es, wenn man ein medizinisches Team sieht, das bestimmte Praktiken in einer Mannschaft unterstützt."

 

Ich [Noret] muss hier meinem Kollegen Miserez teilweise widersprechen. Zahlreiche Fahrer und Soigneurs kennen überall in Europa Adressen von Medizinern und Apothekern, die schnell verschreiben und Medikamente liefern. Ich bin überzeugt davon, dass die Mehrzahl der Sportmediziner den Sportlern keine verbotenen und gesundheitsschädlichen Medikamente verschreibt.

Die Sportmediziner benötigten viel Geduld und Ausdauer um das Vertrauen der Radsportler zu erhalten. Dazu müssen sie gegen die Armee der Soigneurs antreten, die alles daran setzen ihren Einfluss nicht zu verlieren. Das Antidopingreglement hilft ihnen letztlich dabei, das falsche Spiel zu spielen. Der Sportler vertraut dem Arzt seine Gesundheit an und dieser hilft meist mit erlaubten Medikamenten. Wenn der Sportler aber Stimulanzien benutzen möchte, bleibt ihm nur der Gang zum Soigneur, der sie ihm teuer verkauft. Wenn nun Miserez Ärzten untersagen möchte in Radteams zu praktizieren, überlässt er das Feld vollkommen den gefährlichen Scharlatanen. Muss man wirklich alle Mediziner ersetzen nur weil einer seinen Hippokratischen Eid bricht?

"Ich weiß sehr wohl, dass mancher Arzt Fahrer sieht, die sich gefährliche Produkte, die nicht selten toxisch sind, verabreichen. Aber sind sie dafür verantwortlich? Oft übersieht man, dass sie Stunden damit verbringen, die Fahrer aufzuklären und zu warnen. Oder sie versuchen wenigstens zu erreichen, dass die Dosen reduziert werden, denn einem Verbot werden die Sportler nicht folgen.

Am schlimmsten finde ich, dass das Medizinische Team der Tour de France dazu schweigt, dass die Regeln es verhindern, dass sich ein Fahrer normal pflegen, versorgen kann, so dass er heil durch die drei Wochen kommt, die von den Organisatoren jedes Jahr schwerer und selektiver gestaltet werden."

 

"Das 'SOS Cortison' von Dr. Miserez ist berechtigt. Die praktizierten Corticotherapien sind eine wahre Katastrophe. Aber um die aus dem therapeutischen Arsenal der Radler zu verbannen muss man die Ärzte weder brandmarken noch verjagen. Man muss ihnen Anordnungsbefugnis geben, muss das Antidoping-Regelwerk ändern, muss die Organisation des professionellen Radsports überprüfen und den Veranstaltungskalender kürzen. Man muss Änderungen wagen. Vor allem brauchen wir einen Runden Tisch, an dem Mediziner mit den verschiedensten Funktionen gemeinsam versuchen Lösungen zu finden."



V. Unverträglichkeit verschiedener ärztlicher Funktionen

Manche Ärzte haben zwei Rollen übernommen, die sich widersprechen. Sie stehen einerseits Sportlern privat zur Seite und andererseits sind sie Teil des Kontrollsystems, das strikte Neutralität verlangt. Hier setzt scharfe Kritik an. "Ich teile diese Kritik, gebe aber zu, dass ich viele Jahre lang beides nebeneinander ausführte und mir der Konflikt zwischen beiden Rollen nicht bewusst war." In Belgien wurden den Verbandsärzten die Dopingkontrollen bei Rennen, die von der L.V.B. und der UCI organisiert wurden, zugewiesen.

Es spielte der Zufall mit, dass ich am Kontrollprozess nicht mehr teilnahm. Anlässlich eines internationalen Amateurrennens, ergab sich, dass ich u.a. 5 Urinkontrollen, davon an 4 Fahrern, die zu meinen Patienten gehörten, durchführen musste. Der niederländische UCI-Sekretär und ich waren überzeugt davon, dass die Proben negativ sein würden. Doch der Sieger des Rennens wurde wegen Dopings sanktioniert. Er war seit Längerem mein Patient, dessen vielversprechende Karriere ich mit Interesse verfolgte. Er schwor nur von mir verschriebene Vitamine eingenommen zu haben. Nach einem Einspruch wurde das Urteil zu seinen Gunsten geändert. Das machte mich nachdenklich, "denn wenn der eine Fahrer, der nicht mein Patient war, positiv gewesen wäre, hätte dieser behaupten können, dass ich einen 'meiner' Fahrer durch Manipulationen der Kontrollen bevorteilt hätte."

Doch es gibt noch viele Ärzte, die mit dieser beschriebenen inakzeptablen Doppelfunktion ihre Glaubwürdigkeit unter graben.



Norets Schlussfolgerungen

Postulate:

1. Das Dopingproblem ist ein rein medizinisches.

2. Der Antidopingkampf, wie er seit 1962 geführt wurde, ist ein Fehlschlag, denn heutzutage dopt sich die große Mehrheit der Sportler.

3. Die Gefährlichkeit des Dopings nimmt von Jahr zu Jahr zu und wird einen Zustand erreichen, der absolut nicht mehr tolerierbar ist, da man langfristig mit schweren Foigen rechnen muss.

4. Der Handel mit Dopingprodukten findet oft auf illegalen Märkten statt oder wird von Soigneurs abgewickelt, die keinerlei medizinische Kenntnisse besitzen.

 

Hypothesen:

1. Die Freiheit der ärztlichen Verschreibung, das Recht des Sportlers auf Heilung und auf Arbeit müssen respektiert werden.

2. Die ärztliche Verschreibung muss dem Berufsethos entspechen. Sie muss daher präventiv und heilend sein und darf weder kurz- noch langfristig die Gesundheit des Patienten beeinträchtigen.

 

Lösungswege:

Da die Lösung allein in den Händen der Mediziner liegt, muss ihnen der Zugriff auf alle Medikamente gewährt werden. Doping darf weder staatlich noch vom Sport geregelt werden. Dieser revolutionäre neue Weg könnte die beschriebenen Probleme lösen. Damit wäre auch der Weg geebnet für einen freien, ehrlichen und konstruktiven Dialog zwischen Sportler und Arzt. So fiele zwar die gesamte Verantwortung den Ärzten zu, aber diese ist abgedeckt durch die Berufsethik und staatliche Gesetzgebung. So dass im Falle von Grenzüberschreitungen entsprechende Sanktionen greifen würden.

 



 

Maki, November 2013


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