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Historisches aus dem Radsport



Gregers Nissen

Text von Renate Franz, auf c4f veröffentlicht im April 2015



Gregers Nissen: Der „Prophet des Radwanderns“

Gregers Nissen um 1890
Gregers Nissen in den 1920er Jahren

Nur wenige Fahrradpioniere haben sich um die Akzeptanz des Fahrradfahrens in der breiten Bevölkerung so verdient gemacht wie der nordfriesische Volksschullehrer Gregers Nissen. Er propagierte das „Wandern mit dem Rade“ schon vor 120 Jahren; sein Name ist heute nahezu vergessen. Jahrzehntelang bekleidete er das Amt eines Wanderfachwarts in verschiedenen Radsportverbänden, doch ihn schlicht als „Funktionär“ zu bezeichnen, würde sein breites Engagement höchst ungenügend umschreiben und auch die spätere Ehrenbezeichnung „Prophet des Radwanderns“ greift zu kurz (1). Sein Wirken war tatsächlich von visionärer Weitsicht sowie beeindruckender Energie und Tatkraft geprägt, von hanseatischer Weltoffenheit, aber auch von konservativem Patriotismus.

 

Geboren wurde dieser ungewöhnliche Mann am 3. Mai 1869 als Bauernsohn in dem kleinen nordfriesischen Ort Soholm (2). Als er ein Jahr alt war, starb seine Mutter, sechs Jahre später sein Vater, beide litten an Tuberkulose. Der Lehrer und Organist Hans Carl Carstensen aus dem nahen Leck, der vermutlich sein Patenonkel war, nahm den verwaisten Jungen zu sich und förderte ihn (3). Zum Studium, das ihm durch den Verkauf des elterlichen Hofes möglich wurde, zog Nissen 1885 nach Eckernförde. Als Student erwarb er ein handgearbeitetes Hochrad aus Eisen für die damals sehr hohe Summe von 300 Mark, das er in Stand setzte und sorgfältig pflegte. Als das kostbare Stück Jahre später durch einen Unfall zu Bruch ging, weinte seine junge Ehefrau bitterlich, weil es beim Verkauf nur 30 Pfennige einbrachte (4).



Gemeinsam mit Gleichgesinnten gründete Gregers Nissen den „Radfahrverein Eckernförde von 1887“, den ältesten Radsport-Verein Schleswig Holsteins (5). Mit Abschluss seines Studiums wurde er Volksschullehrer und 1890 nach Altona versetzt. Im selben Jahr heiratete er die Tochter seines Ziehvaters Carstensen, Johanna Wilhelmine. Das Paar bekam zehn Kinder, neun Söhne und eine Tochter; ein Junge und das einzige Mädchen starben als Kleinkinder. Der erste Sohn kam 1889 zur Welt, noch vor der Verheiratung der Eltern, was einen tieferen Grund hatte: Nur unverheiratete Junglehrer bekamen damals eine Anstellung, und so wurde mit der Heirat gewartet (6).



Deckblatt der Noten für
„Erinnerung an Blankenese“
„Tourenmarsch der Bicyclisten“,
dem „Altonaer Bicycle Club“ gewidmet

Das elterliche Erbe war inzwischen aufgebraucht, und mit einem Lehrergehalt von monatlich 90 Mark musste Nissen eine immer größer werdende Kinderschar ernähren und seinen teuren Radsport finanzieren. Durch Nebentätigkeiten besserte der vielseitig talentierte und gut ausgebildete Nissen die Haushaltskasse auf: Er arbeitete als Organist der Hamburger Johanniskirche, leitete den Kirchenchor und spielte Klavier bei geselligen Anlässen der gutsituierten Hamburger Kreise (7). Darüber hinaus komponierte er Lieder und Märsche, Stücke wie den „Touren-Marsch der Bicyclisten“, den Walzer „Ostseewellen“ und den „Hamburger Dom-Marsch“ (8). Später erteilte er Abendunterricht in der Gewerblichen Fortbildungsschule (9). Dennoch blieb Zeit für weitere Hobbys, die Malerei sowie die Fotografie.

 



Schon in seinem ersten Jahr in Altona wurde Nissen zum Ersten Vorsitzenden des ältesten deutschen Radsportvereins, des „Altonaer Bicycle Clubs von 1869'' (ABC), gewählt, einem Verein, in dem sich das Bürgertum versammelt hatte und der den Schwerpunkt seiner Aktivitäten auf Wanderfahrten, Saalsport sowie gesellschaftliches Zusammensein legte. Überschüsse von Festen wurden regelmäßig für karitative Zwecke gespendet (10). 1891 trat der frisch gewählte Vorsitzende dem Gau-Vorstand des „Deutschen Radfahrer-Bundes“ (DRB) bei.

 

Im Jahr darauf organisierte Gregers Nissen eine „Huldigungsfahrt“ mit rund 1200 Teilnehmern nach Friedrichsruh, dem Wohnsitz des ehemaligen deutschen Reichskanzlers Otto von Bismarck. Der Plan wurde, so beschreibt es Nissen selbst, „an einem ungemütlichen Winterabend […] beim dampfenden Grog“ gefasst (11). Bismarck persönlich, der nach seinem Sturz zurückgezogen und depressiv in Friedrichsruh lebte, wurde in die Planungen der Fahrt mit einbezogen und war zunächst überrascht: „Ich habe geglaubt, dass nur eine Anzahl Hamburger mich besuchen wollen [sic!].“: Der „eiserne Kanzler“, der Zeit seines Lebens mit gesundheitlichen Problemen und Übergewicht zu kämpfen hatte, war „begeistert von unseren Ausführungen über den Radfahrsport“ und räumte ein: „Ja, meine Herren, es hätte meiner körperlichen Entwicklung vielleicht auch ganz gut getan; aber ich hatte keine Zeit.“ (12)



Erinnerungsplakette der Huldigungsfahrt für Bismarck 1892

Im Mai, an Himmelfahrt, ging die Fahrt von Bergedorf aus los, der Korso bestand aus 500 Hochrädern, über 600 Niederrädern und vielen Dreirädern und Tandems. Die Radfahrer waren mit Standarten und Bannern ausgestattet und wurden von zwölf Ehrenfahrern im Galakostüm des „Altonaer Bicycle Clubs“ angeführt (13). Nissen hatte alle Hände voll zu tun, die Aufstellung der Radfahrer in einem Halbkreis allein zu organisieren, da sein Kollege aus dem Gauvorstand kopfüber von seinem Hochrad gestürzt war und sich zudem seine „funkelnagelneue“ Hose zerrissen hatte.

 

Bismarck fuhr mit Familie und Entourage in Kutschen in die Mitte des Halbkreises, nahm sich eine Stunde Zeit – nachdem bloße 20 Minuten von seinem Sekretär angekündigt worden waren – und hielt eine kurze Rede: „Das ist eine herzerfreuende Erscheinung für mich, dass die Einrichtung [das deutsche Kaiserreich], an der ich gearbeitet habe, auch durch sportliche Verbindungen, wie die Ihrige, ausgebildet wird.“ Schließlich begrüßte Bismarck eine Gruppe nach der anderen persönlich. Der humorvolle Nissen konnte es sich allerdings nicht verkneifen, seinen „staatstragenden“ Bericht des Besuchs in Friedrichsruh mit der Pointe abzuschließen, dass einer seiner Clubkameraden aus Eckernförde ein Nickerchen im Wald gemacht und die ganze Huldigung verschlafen hatte (14).

 



Streitigkeiten mit dem DRB – der ABC bestand auf dem strikten Prinzip des „Herrenfahrens“ (Amateure) um reine Sachpreise und lehnte Geldprämien grundsätzlich ab – führten zum Austritt des Vereins aus diesem Verband. Nissen begründete den „Norddeutschen Radfahrer-Bund“, der enge Verbindungen zum Radtouristenverband „Allgemeine Radfahrer-Union“ (ARU) unterhielt, bei dem der Radtourismus auch über die Grenzen des Reiches hinaus im Mittelpunkt der Aktivitäten stand und der sich als fortschrittlich, international und völkerverbindend verstand (15). Den DRB auch als Vertreter von Rennfahrern hingegen bezeichnete die ARU als „reaktionär konservativ“, da Radrennen, besonders die der Profis, als nationale Rivalität verstanden wurden (16). 1919 wurden beide Verbände vereinigt, nicht ohne Widerstand aus den Reihen der ARU-Mitglieder, die auf den neuen Verbandsnamen „Bund Deutscher Radfahrer“ (BDR) bestanden, um einen Neuanfang zu markieren (17). Im selben Jahr trat Nissen als Lehrer in den Ruhestand.

 



Von 1893 bis 1933 bekleidete Gregers Nissen mit Unterbrechungen in diesen Verbänden das Amt des „Wanderfachwarts“ wie auch zeitweise das des „Jugendfachwarts“, in späteren Jahren mit tatkräftiger Hilfe seiner acht Söhne (18). Auch war der Vater zeitweise Zweiter Vorsitzender des BDR. 1912 unterstützte er die Organisation der Radsportwettbewerbe bei den Olympischen Sommerspielen in Stockholm und wurde dafür ausgezeichnet – eine Auszeichnung, der im Laufe seines Lebens viele weitere folgen sollten, für ihn selbst wie für seine Söhne (19).

 

1915, also während des Ersten Weltkriegs, regte Nissen – vergebens – die systematische Anlage von Radfahrwegen nach dem Vorbild der Niederlande in Deutschland an (20). Er initiierte zu diesem Zwecke die Kampagne „Schafft Radfahrwege für Stadt und Land!“, die von bekannten Persönlichkeiten, unter ihnen Carl Diem, unterzeichnet wurde. Der Journalist Fredy Budzinski schrieb dazu: „Man hielt ihn für einen armen Irren, aber er hielt mit der Zähigkeit des alten Friesen an diesen Plänen fest.“ (21)



Erste Radtour des „Altonaer Bicycle Clubs“ nach dem Ersten Weltkrieg, 1920. Gregers Nissen, 3.v.r.,
sein Sohn Werner 2.v.l.

Nach dem Krieg verlangte Gregers Nissen Radwanderstraßen durch ganz Europa, freie Überschreitung der Grenzen sowie Radfahrerheime in Stadt und Land. Zudem forderte er die lokalen Radfahr-Vereine auf, bei den Kommunen auf den Bau von Radwegen zu dringen (22). Er engagierte sich auch im „Internationalen Touristen-Verband“ für den Radtourismus und hielt steten Kontakt zu anderen nationalen Verbänden in Europa (23).

 

Nissens weitere Anstrengungen galten der Förderung des Radfahrens bei der Jugend sowie bei den „Alten“. So organisierte er zahlreiche Wanderfahrten, wie etwa eine Ostpreußen-Wanderfahrt sowie eine Fahrt zu den Bahn-Radweltmeisterschaften in Köln 1927 für Herren, die nicht jünger als 50 Jahre alt sein durften, andererseits eine Rheinfahrt mit 600 Jugendlichen - Leistungen, die als „Paradestücke“ bezeichnet wurden (24). Ab 1914 förderte er als Vorsitzender des Gau Hamburg-Altona auch „Jugendradfahrübungen für militärische Ausbildung“. (25)

 



Gemeinsam mit dem königlich-sächsischen Topographen Robert Mittelbach gab Nissen zwischen 1886 und 1896 die ersten Landkarten für Radfahrer in Deutschland heraus. Sie waren praktischerweise einseitig bedruckt, auf Leinen aufgezogen und wetterfest (26). Er selbst feierte die Karte als „nationales Werk, auf welches die deutsche Radfahrerschaft stolz sein darf“ (27). Insgesamt erschienen 82 Blätter dieser „Mittelbachschen Karten“ im Maßstab 1 : 300 000. Auf ihnen sind Steigungen angegeben, Wälder durch Bäume, Dörfer durch Kirchtürme, Fabriken durch rauchende Schlote, Mühlen durch Mühlräder, gefährliche Stellen durch Kreuze und Bahnhöfe durch Punkte mit Fähnchen symbolisiert (28).

 



Deckblatt „Das Wanderfahren auf dem Rade“
Abbildung aus dem Buch „Wanderfahren“
Abbildung aus dem Buch „Wanderfahren“
Gregers Nissen im Jahre 1928
Gregers Nissen führt einen Korso seines Vereins an 1928, anlässlich der Altona-Blankenser Woche
Ehrenurkunde des BDR aus dem Jahre 1933

Wann Gregers Nissen begonnen hat, mit dem Rad weitere Reisen – u.a. nach Skandinavien, Österreich, in die Schweiz, nach Italien und auf den Balkan – zu unternehmen, kann nicht genau datiert werden. Voraussetzung für längere Reisen war sicherlich die Einführung des Niederrads mit strapazierfähigen Reifen. Nach Budzinskis Angaben gab es „in Europa keine Landstrasse, auf der Nissen nicht dahingeradelt wäre“.

 



Deckblatt einer Touren-Profilkarte, 1920er Jahre
Beispiel einer Tourenprofilkarte

Nissen beschränkte sich jedoch nicht darauf, diese Radreisen zu unternehmen, sondern veröffentlichte seine Erfahrungen in zahlreichen Büchern. 1898, als Nissen 29 Jahre alt war, erschien sein Buch „Reiseführer für Radfahrer: Nordwestdeutschland u. Dänemark“. Sein Radreiseführer zu „Ostholstein“ lag 1908 schon in 17. Auflage vor – wann die erste erschienen war, ist nicht bekannt. Schon 1901 hatte er auf einer Automobilausstellung eine Goldmedaille für Reiseliteratur erhalten (29).

 

1899 führte Nissen das von seinem inzwischen verstorbenen Mentor Hans Carl Carstensen verfasste Manuskript über die Geschichte seines Heimatortes (danach war ein Brand des Kirchturms im Jahre 1872 das herausragende Ereignis) unter dem Titel „Chronik des Dorfes und Kirchspiels Leck und der Karrharde“ zu Ende und gab es im Selbstverlag als Buch heraus. Auch wenn er nun in Altona lebte, war die Verbundenheit mit seiner nordfriesischen Heimat weiterhin stark. Als es 1920 zu einer Volksabstimmung über den Verlauf der deutsch-dänischen Grenze kam und in der Folge sein Geburtsort im Deutschen Reich verblieb, verfassten 38 „auswärtige Abstimmungsberechtigte“, darunter auch Nissen, die Gedenkmappe „Das goldene Buch von Soholm“ unter dem Motto „Wir wollen Deutsche sein und bleiben“ (30).

 

1922 kam Nissens umfassendes Compendium mit dem Titel „Hand- und Auskunftsbuch für Alt und Jung - Das Wanderfahren auf dem Rade“ heraus. Darin abgehandelt wurden u.a. Themen wie Jugend-Wanderfahren, Versicherungen, Gefahren der Straße, Trank und Speise, Zelt-Lagerleben, Ausrüstung, Fahrvorschriften in anderen Ländern sowie eine Auflistung von Plänen, Reiseführern und Karten. Der Autor pries das Wanderfahren als die „Königin aller Wanderzweige“. Der Jugend riet er: „Spart Eure Groschen und kauft euch eine blitzblanke Maschine […].“ 1925 erschien die zweite Auflage des Radwanderführers „Ost-Deutschland“ (1. Auflage von 1902) mit beiliegender Karte, in dem er penibel 43 Routen Kilometer um Kilometer beschrieb, mit Angaben von Steigungen, Sehenswürdigkeiten und Übernachtungsmöglichkeiten. Im Vorwort schrieb er: „Die zweite Auflage umfaßt dasselbe Gebiet wie die 1. Auflage, obgleich unserem Vaterlande grosse Gebietsteile entrissen wurden und der Korridor uns von Ostpreussen trennt. Ich habe die Hauptstrassen durch die abgetretenen Teile aufgenommen in der Hoffnung, dass es doch auch einmal wieder anders kommen kann.“

 



Auf mehreren Reisen ab 1927 wurde Nissen von seiner Frau Johanna begleitet, wie aus ihrem Reisepass hervorgeht (31). Sie war lange Jahre wegen der vielen Abwesenheiten ihres Mannes eine nahezu alleinerziehende Mutter gewesen. Nun war auch der jüngste Sproß, 1909 geboren, erwachsen, und so war sie offensichtlich zu Hause besser abkömmlich. Allerdings wurden diese Reisen nicht auf dem Fahrrad durchgeführt (32).

 

Mit Freunden auf Radtour


Ende der 1920er Jahre machte Nissen, nun schon etwa 60 Jahre alt, gemeinsam mit zwei Freunden eine seiner weitesten Reisen, nach Südspanien (offensichtlich ohne seine Frau). Allerdings fuhr die Reisegesellschaft nicht die gesamte Strecke von Altona aus mit dem Rad, sondern reiste zunächst bequem mit dem Frachtschiff „Usambara“ der Deutschen Ostafrika-Linie vom Hamburger Hafen aus bis nach Malaga. Unterbrochen wurde die Fahrt von Aufenthalten in Antwerpen, wo sich der stets umtriebige Nissen mit dem Präsidium des „Vlaamschen Toeristen-Bond“ traf. Weitere Stationen waren Southampton, Lissabon sowie Tanger, so dass man erst nach zwei Wochen in Malaga eintraf.

 



Deckblatt des Buches „Fern im Süd, das schöne Spanien“
Vor dem Start der Radtour nach Spanien, Ende der 1920er Jahre

Vergnüglich schilderte Nissen diese Schiffsreise, wie etwa in der Biskaya schwere See aufkam und man im Speisesaal „viele leere Plätze“ sah: „Trotzdem droschen wir drei Reisegefährten […] unseren Skat in unserer molligen Ecke […].“ Zu Beginn der Radtour lobte er „die diktatorischen Maßnahmen von General Primo de Rivera“ (33) zur Verbesserung der Straßen. Ansonsten beschrieb er in diesem Buch kaum die Radtour an sich, sondern höchst anschaulich Land und Leute: „Von den Bäumen der Gärten und auf dem Feldern, die von gewaltigen Agaven- und Kaktushecken eingefaßt sind, glänzen golden die reifen Orangen und Zitronen.“ Die Herren radelten von Malaga aus nach Gibraltar, von dort aus über Tarifa, Cadiz, Jerez, Sevilla, Cordoba und Motril zurück nach Malaga. Seinen Reisebericht nannte er poetisch „Fern im Süd das schöne Spanien“ nach einer Gedichtzeile des deutschen Schriftstellers Emanuel Geibel aus dem Jahre 1837.

 

Im Zuge der Gleichschaltung der Radsportverbände durch die Nationalsozialisten im Jahre 1933 zog sich der inzwischen 64jährige Gregers Nissen von den meisten nationalen und internationalen Ämtern zurück. Politische Gründe lagen offensichtlich nicht vor, da er von der neuen NS-Verbandsführung zum Führer der Radfahrerschaft im Gau Nordmark berufen wurde (34). Im Juli 1933 organisierte er noch den „Deutschen Wandertag“ in seiner Heimatstadt Hamburg. Die „Bundeszeitung“ schrieb: „Dieser ‚König‘ [Nissen] feiert ein besonderes Jubiläum mit dem Wandererfest. Er feiert seine dreißigjährige Zugehörigkeit zum Bundesvorstand. [...] Es ist ein Zeugnis von Liebe zu einer Sache, die in der Jugend als groß erkannt, aber noch größer geworden ist, als der für den Radsport begeisterte Nissen erwarten konnte." (35)

 



Juli/August 1933 führte Gregers Nissen eine „AH-Wanderfahrt“ durch Schleswig-Holstein durch, eine letzte Veranstaltung des „Bundes Deutscher Radfahrer“ vor der endgültigen Gleichschaltung und Umbenennung in „Deutscher Radfahrer-Verband“ (36). Er selbst kommentierte diese Veranstaltung und ihren Verbleib innerhalb deutscher Grenzen: „Die Umwandlung der Dänemark-Fahrt in eine Schleswig-Holstein-Fahrt hat niemand bedauert. [...] Die Organisation klappte und die bekannte frohe Sinnesart der Teilnehmer, gewürzt von einem goldenen Humor, erlahmte niemals, ‚Hitlergeist‘ beseelt schon seit jeher diese Bundestruppe.“ (37) Sein Sohn Werner jedoch hatte noch kurz zuvor eine „Bundes-Wanderfahrt“ nach Dänemark über rund 1100 Kilometer angeführt (38). 1937 wurde in der Zeitschrift „Der Deutsche Radfahrer“ ein Porträt von Gregers Nissen veröffentlicht unter der Überschrift „50 Jahre Führer im deutschen Radsport“. (39)

 

Im Jahr darauf meldete sich der weiterhin engagierte Nissen nochmals selbst zu Wort: Offensichtlich hatte er sich darüber geärgert, dass die längere Radtour eines Grafen Lerchenfeld von München nach Italien in bayrischen Zeitungen als „außergewöhnlich“ bezeichnet worden war, denn er kritisierte unter der Überschrift „Originell?“ im „Deutschen Radfahrer“: „Wenn die Schriftleiter jener Zeitungen mit beiden Füßen im Radwandern gestanden hätten, würden sie wissen, dass große Leistungen aus allen Kreisen der Bevölkerung verzeichnet werden können, wobei auch das weibliche Element nicht fehlt. […] Standesunterschiede gab es nicht. Wir waren Kameraden“, schrieb er, „Das Fahrrad ist das Universal-Verkehrsmittel des deutschen Volkes. […] Große Fahrten sind nur eine Folge von der erstaunlichen Verwendungsfähigkeit des Rades. Sie sind durchaus nicht originell, auch nicht, wenn es sich um einen Grafen handelt.“ (40)

 

Im Kriegsjahr 1941 schrieb Nissen einen Brief an die Geschäftsstelle seines Vereins. Er habe eine Mitteilung der „Gestapo“ [Nissen schrieb das in Anführungszeichen gesetzt] erhalten, wonach der „Altonaer Bicycle Club“ umgehend seinen Namen zu ändern habe. Das NS-Regime stieß sich offensichtlich an dem englischen Begriff für Fahrrad; Nissen schlug deshalb den Namen „Altonaer Radfahrer-Verein von 1869“ vor. Zudem verlange die „Gestapo“ ebenfalls „umgehend“ die Zusendung von Satzung und Mitgliederlisten. Wieso die Staatsmacht die Umbenennung sowie die Vorlage der Dokumente erst vergleichsweise spät einforderte, ist unklar (41). Gleichschaltung und „Arisierung“ von Vereinen waren in der Regel Mitte der 1930er Jahre abgeschlossen worden.

 

Vom Reichsbund für Leibesübungen beauftragt, sollte Gregers Nissen eine Geschichte des Radsports niederschreiben. Bevor er jedoch dazu kam, starb er am 20. Juni 1942, nachdem er schon aus gesundheitlichen Gründen die Geburtstagsfeier im Mai hatte absagen müssen (42). Seine Frau Johanna, die laut Familienchronik eine lebenslustige und lebensbejahende Frau war, „die neben diesem äußerst aktiven, vielseitigen und dominierenden Ehemann durchaus ihren Mann“ stand, überlebte ihn um 13 Jahre und starb 1955 mit 86 Jahren (43).

 

Anlässlich von Gregers Nissens 100. Geburtstag im Jahr 1968 schrieb sein Sohn Georg an die Familie: „Eurer Urgroßvater hat was vom Leben gehabt!“ (44)

 



Nissens 70. Geburtstag im Kreise der Familie


Quellen, eine Auswahl

* Ost-Holstein. Touristenführer durch das östliche Holstein, das Fürstenthum Lübeck, Herzogthum Lauenburg und die Städte Lübeck und Kiel. (mit Adolf Sylvester Thamm), mind. 17 Auflagen seit ca. 1895

* Nordwest-Deutschland und Dänemark, mind. drei Auflagen seit ca. 1895

* 150 Ausflüge in Hamburgs Umgebung und in die Lüneburger Heide. 1908/1909

* Wanderbuch des Deutschen Radfahrerbundes. Band 4: Ostdeutschland, 1910

* Durch den Thüringer Wald. Touren-Profilkarte des Deutschen Radfahrer-Bundes e.V. Blatt 8, ca. 1920

* Das Wanderfahren auf dem Rade, Berlin 1922

* Von Hamburg auf dem Rade nordwärts. Nachdruck der Original-Ausgabe von 1897. Hamburg 1979

* Fern im Süd, das schöne Spanien: eine Frühlings-Wanderfahrt durch Andalusien. Berlin 1929/1930.

 

Mein besonderer Dank gilt Gregers Nissen Enkel Nis Nissen, der mir freundlicherweise die Dokumente und Fotos der Familie zur Verfügung stellte. Renate Franz

 



Fußnoten

(1) Der Deutsche Radfahrer'', 24. Juni 1942.

(2) Die meisten biografischen Angaben zu Nissen wurden einem von ihm selbst verfassten Lebenslauf entnommen. Archiv Fredy Budzinski, Zentralbibliothek der Sportwissenschaften der Deutschen Sporthochschule Köln, Nr. 84.

(3) Interview mit Nis Nissen (Enkel), 9. Februar 2011.

(4) Chronik der Familie Nissen, 2007, S. 47.

(5) Der Verein besteht heute noch heute als „Radsportgemeinschaft Eckernförde“. www.rg-eckernfoerde.de

(6) ebenda, S. 59.

(7) ebenda, S. 47

(8) ebenda, S. 28ff.

(9) ebenda, S. 48.

(10) Oliver Leibbrand: Bürgerlicher Radsport im Deutschen Kaiserreich. Der Altonaer Bicycle-Club von 1869/80 (aeltester Bicycle-Club der Welt), Hamburg, Univ., Magisterarbeit, 2007, S. 53. Rüdiger Rabenstein: Radsport und Gesellschaft, Hildesheim 1996, S. 42.

(11) Chronik der Familie Nissen, S. 9.

(12) ebenda; Werner Richter, Bismarck, Frankfurt 1977, S. 545.

(13) ebenda, S. 10.

(14) Der Familienüberlieferung nach soll Nissen Kaiser Wilhelm II. in seinem Exil in Doorn besucht und auch ein Zusammentreffen mit Konrad Adenauer gehabt haben. Dafür fehlen leider die Belege, zumal das Historische Archiv der Stadt Köln momentan nur eingeschränkt nutzbar ist, wo z.B. die Akten Adenauers aus seiner Zeit als Kölner Oberbürgermeister aufbewahrt werden.

(15) Leibbrand, S. 53. Rüdiger Rabenstein: Radsport und Gesellschaft, Hildesheim 1996, S. 215f.

(16) Rabenstein, S. 217

(17) Die damaligen Verbands- und Mitgliedsstrukturen stellen sich verworren dar: Während der ABC 1895 aus dem DRB ausgetreten war, vereinigte sich der DRB mit dem „Norddeutschen Radfahrer-Bund“ wieder im Jahre 1903. Laut den vorliegenden Unterlagen wiederum trat der ABC trat dem BDR, der Nachfolge-Organisation des DRB, erst im Jahre 1920 bei. Gleichwohl wurde Gregers Nissen vor der Gründung des BDR im Jahre 1919 als Wanderfachwart des DRB aufgeführt, obwohl dessen Verein zu diesem Zeitpunkt vermeintlich kein Mitglied dieses Verbandes war. Eine mögliche Erklärung ist, dass Nissen Mitglied eines weiteren Vereins, etwa des Radfahrvereins Eckernförde, war und als solcher ebenso weiterhin Mitglied des DRB. Leibbrand, S. 54; Rabenstein, S. 217; Rad-Welt, 4. Juni 1919; Rad-Welt, 30. Juli 1919.

(18) Fritz Nissen war zudem in den 1930er Jahren aktiver Radballer.

(19) B.Z. am Mittag, 5. Mai 1927, Nr. 119, Beilage zum Sport. Im Amtlichen Bericht der Olympischen Spiele 1912 wird Nissen allerdings nicht namentlich erwähnt.

(20) Anne-Katrin Ebert: 'Radelnde Nationen. Die Geschichte des Fahrrads in Deutschland und den Niederlanden''. Frankfurt 2010, S. 383.

(21) Maschinengeschriebenes Manuskript, Archiv Fredy Budzinski, 1969, Nr. 84.

(22) Gregers Nissen: ''Schafft Radfahrwege für Stadt und Land! Aufforderung zur Mitarbeit an sämtliche Radfahrervereine und Verkehrsvereine Deutschlands''. In: ''Der Radmarkt'' 1867, 1927, S. 31-33, nach: Ebert: ''Radelnde Nationen'', S. 385.

(23) B.Z. am Mittag, 5. Mai 1927, Nr. 119, Beilage zum Sport.

(24) Der Deutsche Radfahrer, 27. April 1937; Leibbrand, S. 62.

(25) Leibbrand, S. 65.

(26) Leibbrand, S. 61f.

(27) Nissen, Das Wanderfahren auf dem Rade, S. 148.

(28) Fairkehr Nr. 3, 1993.

(29) ebenda, S. 48.

(30) ebenda, S. 42.

(31) ebenda, S. 55. Es liegt nur ein Reisepaß vor, der 1927 ausgestellt wurde, so dass unklar ist, ob Johanna Nissen ihren Mann auch schon vorher begleitete. Auch ist unbekannt, ob sie ihn auf dem Fahrrad begleitete, oder ob es sich um Reisen per Zug etc. handelte.

(32) Interview mit Nis Nissen (Enkel), 26. Februar 2011. Seiner Kenntnis nach konnte seine Großmutter nicht radfahren.

(33) General Primo de Rivera regierte Spanien von 1923 bis 1930 als Diktator.

(34) Der Deutsche Radfahrer, 27. April 1937.

(35) Bundeszeitung, 16. Juli 1933. Der Verfasser dieses Artikels irrte allerdings, denn Nissen war nicht 30, sondern 40 Jahre lang Mitglied des Verbandsvorstands.

(36) S. Abbildung der Urkunde. Es ist anzunehmen, dass mit „AH“ Adolf Hitler gemeint ist.

(37) Bundeszeitung, 16. August 1933.

(38) Werner Nissen trat später die Nachfolge seines Vaters als Vorsitzender des ABC an. Obwohl selbst nicht als Radfahrer aktiv, war er bei der Organisation von Rennen und Radball-Turnieren aktiv. Von 1972 bis 1976 war er Erster Vorsitzender des Hamburger Radsportverbandes.

(39) Der Deutsche Radfahrer, 27. April 1937. Diese 50 Jahre bezogen sich auf das Gründungsdatum des „Radfahrvereins Eckernförde“.

(40) Der Deutsche Radfahrer, 5. Dezember 1938

(41) Brief von Gregers Nissen an den ABC, 21. Mai 1941, Privatsammlung Familie Nissen.

(42) Leibbrand, S. 63.

(43) Chronik der Familie Nissen, S. 49

(44) ebenda, S. 48.

 


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