«Doping war das Beste, was mir je passiert ist»

Der Franzose Steve Houanard träumte von der Tour-de-France-Teilnahme. Als er sich dopte und überführt wurde, glaubte er, sein Leben sei zu Ende. Dabei fing es gerade erst an.

Christof Gertsch, Paris
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Steve Houanard. (Bild: Freshfocus)

Steve Houanard. (Bild: Freshfocus)

Es war tiefe Nacht in Peking, und Steve Houanard lag in einem Hotelzimmer im Bett. Er hatte die Klimaanlage eingeschaltet, denn draussen war es feucht und warm, und er hatte die Vorhänge zugezogen. Er wollte nicht, dass ihn die Lichter der Stadt vom Schlafen abhielten. Für die zweite Etappe der Tour of Peking, die am nächsten Morgen auf dem Programm stand, musste er ausgeruht sein. Es ging vom Bird's Nest, dem Olympiastadion, in den Distrikt Mentougou, 126 Kilometer in der Schwüle.

Doch Houanard trat nie zur zweiten Etappe an. Die Nacht in Peking war seine letzte als Radprofi.

Er hatte einige Stunden geschlafen, als er aufschreckte. Er weiss bis heute nicht, was ihn geweckt hat, aber sagt, es sei wohl ein Zeichen gewesen. Er war ganz verschwitzt, und weil er nicht wieder einschlafen konnte, warf er einen Blick aufs Handy, das am Boden lag. Dutzende verpasster Anrufe, Dutzende SMS. «Was ist los?», schrieb einer. «Du bist positiv!», schrieb ein anderer.

Positiv? Positiv! Steve Houanard, ein Franzose, damals 25-jährig, war positiv auf Doping. Die Karriere war zu Ende, das war ihm schnell klar. Aber noch ahnte er nicht, wie falsch er mit dem Gedanken lag, dass damit auch alles vorbei sei, was ihm je etwas bedeuten könnte.

Kisten schleppen, Taxi fahren

Zweieinhalb Jahre später, ein Sommernachmittag in einem Pariser Bistro. Drinnen hängt ein Fernseher an der Decke, es läuft die Tour de France, sie ist nicht mehr als ein Hintergrundgeräusch. Draussen sitzt Houanard an einem dieser Tischchen, die so eng nebeneinander stehen, dass man kaum Platz hat. Er redet unentwegt, über dieses und jenes – und sagt plötzlich diesen Satz, ohne Aufhebens: «Doping war das Beste, was mir je passiert ist.» Er redet weiter, ohne Pause, als wüsste er nicht, wie ungewöhnlich der Satz war.

Für ihn ist er nicht ungewöhnlich. Er sagt: «Wenn ich nicht gedopt hätte und nicht erwischt worden wäre – ich würde bis heute den falschen Dingen hinterherlaufen. Natürlich war es dumm, mich zu dopen. Aber das, was danach folgte, das, was seither ist – das ist wunderbar.»

Damals, nach der Herbstnacht im Pekinger Hotelzimmer, sagte er gar nichts. Er schaltete das Handy stumm und wechselte später die Nummer, er löschte den Facebook-Account, schaute kein Fernsehen, las keine Zeitungen, wochenlang nicht. Er tauchte ab und ganz anderswo wieder auf.

Er sagte nicht, dass er sich nur dieses eine Mal gedopt hatte, dass er sich gedopt hatte aus Angst, den Vertrag im französischen Team Ag2r nicht verlängert zu bekommen. Sagte nicht, wie der Teamchef über Geldprobleme geklagt und in Aussicht gestellt hatte, ihn entlassen zu müssen, ausser er bewähre sich in Peking. Sagte nicht, wie einfach es gewesen sei, sich im Internet EPO zu beschaffen, ein, zwei Klicks, ein paar Tage warten, dann kam das Paket per Post. Er sagte von alldem nichts. Was hätte es für eine Rolle gespielt?

Dass er ein Sieger werden wollte, um die Profikarriere zu retten, und dass er wie ein Roboter gehandelt und der Betrug ihn kein bisschen Überwindung gekostet hatte: Das war jetzt egal. Houanard blickte nicht zurück. «Hätte ich über die Situation nachgedacht, hätte ich mich kaum so schnell aufgerafft.» Er setzte sich ins Flugzeug nach Paris, und nur einen Tag nach der Ankunft fing er zu arbeiten an. Am Morgen schleppte er Kisten auf den Markt, und am Abend fuhr er Taxi. Er machte alles. Hauptsache, es gab etwas Geld. Er hatte 2000 Euro auf dem Konto, aber musste eine 40 000-Euro-Strafe begleichen, die ihm der Weltverband aufgebrummt hatte.

Vom einen Extrem ins andere

Nach fünf Jahren als Profi, in denen er sich nie irgendwelche Sorgen hatte machen müssen, weil sich ja das Team um alles kümmerte und seine Familie sich bemühte, ihn nicht mit scheinbaren Nebensächlichkeiten zu belasten, nach fünf Jahren «in dieser Blase», wie er sagt, in der sich alles um ihn drehte und er dennoch das Gefühl hatte, nicht frei zu sein, «fremdbestimmt zu sein» – nach fünf Jahren stürzte er sich in ein neues Leben. Ins richtige Leben, wie er sagt. «Das einzig richtige Leben.»

Er traf all die Freunde wieder, die er aus den Augen verloren hatte, weil er an Rennen beschäftigt oder für Trainingslager unterwegs gewesen war, in den Bergen, auf dem Land, weitab von daheim; traf die Freunde, die wie er in der Banlieue aufgewachsen waren und sich nie für ihn als Radprofi interessiert hatten. Als sie ihn fragten, warum er zurück sei, sagte er: «Weil ich mich gedopt habe und erwischt wurde.» Er dachte, sie würden sich schämen für ihn und ihn verhöhnen, aber die Freunde machten nur grosse Augen und sagten: «Du warst gedopt? Sind das nicht alle?» Dann lachten sie verständnislos und wendeten sich anderen Themen zu. Solchen, die ihnen näher waren. Und bald waren die Themen auch Houanard wieder näher, «die Themen des Lebens», sagt er. Und er begann sich zu fragen: «Wie hatte ich es so lange als Radprofi ausgehalten?»

Den Tag durch arbeitete er, er nahm sein Studium wieder auf, und die Nacht durch feierte er. Er trank Bier und Wein, wie er es nie zuvor getan hatte, vom einen Extrem ins andere, und er lernte Frauen kennen und verliebte sich, vom einen Extrem ins andere. Er hatte den Profiradsport geliebt und für nichts anderes Platz gehabt. Und jetzt, da er den Profiradsport nicht mehr hatte, war für ganz viel anderes Platz. «Du hast plötzlich sehr viel Liebe in dir, wenn das, was du geliebt hast, nicht mehr ist. Ich merkte, dass das, was ich geliebt hatte, es nicht wert war, geliebt zu werden.»

Sich bekämpfen und umarmen

Houanard stotterte die Schulden ab und beendete das Studium, er kam seiner Familie wieder näher und erfuhr, dass einige seiner Freunde im Gefängnis gesessen hatten, Raubüberfälle, Drogendelikte. Er dachte: «Wie hatte ich meinen können, ein positiver Dopingtest sei das Ende der Welt?» Wie hatte er, als er noch Radprofi war, meinen können, dass sich das Leben nur um Schlafen, Essen, Training dreht? Radprofi zu sein, war alles gewesen, und jetzt, als er darüber nachdachte, realisierte er: Er hatte in der Szene ja gar nie echte Freunde gefunden. Und der Teamchef hatte nicht seinetwegen geweint, als er vom positiven Test erfuhr, er hatte nicht geweint, weil sein Fahrer gesundheitliche Risiken auf sich genommen hatte. Er hatte wegen der Sponsoren geweint, die ihm die Hölle heiss machten, und weil sein Fahrer den Ruf des Teams gefährdet hatte.

Zwar hat Houanard seine Passion gelebt, das Radfahren, «aber ich habe meine Persönlichkeit verleugnet». Der Profisport, sagt er, und er meint es nicht nur in Bezug auf Doping, sei eine Heuchelei. «Erst jetzt erkenne ich, dass man das Glück in den kleinen Dingen findet und nicht in der Paradoxie der Ekstase, die einem der Profisport beschert. Der Profisport presst dich aus, und du erhältst nichts zurück. Nichts, was wirklich einen Wert hat.»

Das, was für ihn wirklich einen Wert hat, bekommt er jetzt am Morgen vor der Arbeit, wenn er um halb fünf Uhr aufsteht, aufs Velo steigt, das er nach dem Karrierenende lange nicht angerührt hat, und eine Runde in einem Wald etwas ausserhalb von Paris dreht. Er fährt wieder Rennen, nicht als Profi, sondern als Amateur, und auch nicht nur der Rennen wegen. Letzten Herbst sprach er beim Präsidenten seines früheren Vereins vor und fragte, ob er für ihn starten dürfe. Der Präsident sagte: «Ich kann dich nicht bezahlen dafür.» Houanard sagte: «Ich will auch nichts dafür.» Er spritzte sein Velo schwarz, damit die Sponsoren von früher nicht zu erkennen waren, und fuhr an den Wochenenden hinaus zu den Rennen, wie in der Kindheit, an manchen Wochenenden gewann er, an anderen verzichtete er auf den Start. Manchmal hatte er zu viel gearbeitet und war müde, andere Male verbrachte er die Zeit einfach lieber mit seiner Freundin.

Im Herbst will er für ein paar Rennen nach Thailand, Kuba reizt ihn auch, und im Frühling war er vier Wochen in Afrika, in Burkina Faso, Senegal, Ghana, Côte d'Ivoire. Er reiste herum und fuhr Rennen, einmal gewann er eine Etappe, einmal wurde er Gesamtdritter. Früher, im alten Leben, war er an der Vuelta a España gestartet und hatte davon geträumt, an der Tour de France teilzunehmen. Jetzt duschte er unter dem Wasser, mit dem er das Velo geputzt hatte, oder duschte gar nicht, weil kein Wasser zur Verfügung stand. Er schlief mit vielen anderen Fahrern in kleinen Zimmern, keine Klimaanlage wie in Peking, keine Vorhänge, kein elektrisches Licht. Sie bekämpften sich auf der Strasse und umarmten sich im Ziel, und in der Dunkelheit des Abends assen sie gemeinsam Znacht. «Ist es nicht das, was den Sport ausmacht?», fragt Houanard. Er weiss die Antwort.

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