Raimondas Rumsas, umringt von seiner Familie, kurz nach dem Erreichen des dritten Platzes an der Tour de France 2002. (Bild: AP)

Raimondas Rumsas, umringt von seiner Familie, kurz nach dem Erreichen des dritten Platzes an der Tour de France 2002. (Bild: AP)

Dieses Familiendrama zeigt, warum die Freigabe von Doping ein Fehler wäre

Der Vater dopte, ein Sohn starb unter ungeklärten Umständen. Die Geschichte der Familie Rumsas erschüttert den Radsport – und sollte Zynikern zu denken geben.

Sebastian Bräuer
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Am Neujahrstag 2018 schreibt Alessia Tonazzini eine Nachricht an Linas Rumsas: «Ich wünsche Dir ein gutes neues Jahr. Auch wenn du physisch weit entfernt bist, in meinem Herzen bist Du immerfort lebendig und präsent.» Linas Rumsas ist seit knapp neun Monaten tot, gestorben im Mai 2017 mit nur 21 Jahren. Seitdem drückt seine Freundin Tonazzini über Instagram ihre Trauer aus, indem sie Linas persönlich anspricht, seine besten Eigenschaften hervorstreicht, sein Lachen, seinen Optimismus.

Am 1. Januar teilt sie nur die beiden Sätze und ein schwarzes Bild. Auch Rasa Rumsas, die kleine Schwester, schreibt Linas über soziale Netzwerke an. Einmal teilt sie auf Facebook mit, dass sie früher nie Angst gehabt habe. Doch jetzt, nach seinem Tod, traue sie sich nicht mehr, mit offenem Fenster zu schlafen. Sie schreibt ihm: «Bald sieht man sich wieder.»

Wenn ein junger Mensch stirbt, wird das Schicksal für seine Nächsten nie vollständig zu begreifen sein, es wird immer Fassungslosigkeit bleiben – aber bei Linas kommt dazu, dass die Todesursache bis heute ungeklärt ist. Es besteht der Verdacht, dem Nachwuchs-Radfahrer könnte der Missbrauch illegaler Substanzen zum Verhängnis geworden sein. Womöglich auf Druck seines Vaters Raimondas Rumsas, dem Dritten der Tour de France 2002, einst selber gedopt. Furchtbar wäre beides: dass der Vorwurf stimmt, aber auch, dass Linas aus anderen Gründen ums Leben kam. Dann würde Raimondas das Leben in seiner italienischen Wahlheimat seitdem zu Unrecht zur Hölle gemacht.

Die Geschichte der litauischen Familie, die in der Gemeinde Lucca bei Pisa lebt, ist mehr als ein Familiendrama. Sie kann beispielhaft als Begründung dienen, warum die gelegentlich von Zynikern geforderte Freigabe von Doping ein Fehler wäre. Und zwar völlig unabhängig von der Todesursache von Linas: Die Serie der Fehltritte des Rumsas-Clans begann schon vor 16 Jahren. Was seitdem alles passierte, erlaubt einen düsteren Befund. Wenn im Sport alles erlaubt wäre, unabhängig von drohenden Gesundheitsschäden, wäre die Bühne frei für die Skrupellosesten. Für Athleten, die vor nichts zurückschrecken. Und für Eltern, die den Kindern ihren überzogenen Ehrgeiz vererben.

Doping beim Giro 2003

Linas ist sieben Jahre alt, als sein Vater 2002 den Erfolg seines Lebens feiert. Nur ein einziges Mal nimmt Raimondas an der Tour teil, dem grössten Radrennen der Welt, und anfangs gilt er in seinem Team nicht mal als Captain. Aber er wächst über sich hinaus. Beim Einzelzeitfahren nach Mâcon wird Raimondas trotz einem mechanischen Problem Zweiter, sein Rückstand auf den Superstar Lance Armstrong beträgt nicht einmal eine Minute. In Paris steht Raimondas zusammen mit Armstrong und Joseba Beloki auf dem Podium.

Raimondas Rumsas während der Tour de France 2002. (Bild: Laurent Rebours / AP)

Raimondas Rumsas während der Tour de France 2002. (Bild: Laurent Rebours / AP)

Für die Familie bricht ausgerechnet an diesem Sonntag im Juli zum ersten Mal das Kartenhaus in sich zusammen. In der Nähe des Mont-Blanc-Tunnels wird Raimondas’ Ehefrau Edita von französischen Zollbeamten angehalten. Ihr Auto gleicht einer rollenden Apotheke: Die Beamten beschlagnahmen Kortikoide, EPO, Testosteron, Wachstumshormone und Steroide. Editas Beteuerungen, die leistungssteigernden Mittelchen seien allesamt für ihre kranke Mutter gedacht gewesen, lassen sie nicht gelten.

Von solchen Substanzen wird kein Patient gesund. Eher lassen sie einen vormals Gesunden vom Fahrrad fallen. Es folgt ein hässliches juristisches Tauziehen. Raimondas weigert sich, für eine Befragung zurück nach Frankreich zu reisen, obwohl er damit seiner Frau helfen könnte, die 73 Tage lang in Untersuchungshaft sitzt. Beide bestreiten jede Schuld, sie werden aber Jahre später wegen der Einführung verbotener Substanzen zu vier Monaten Gefängnis auf Bewährung verurteilt.

Im Prozess kommt es laut der französischen Zeitung «Libération» zu einem denkwürdigen Dialog. Der Staatsanwalt sagt zu Edita: «Glauben Sie nicht, dass man sich besser verteidigt, wenn man die Wahrheit sagt?» – «Ich weiss nicht, was die Wahrheit ist.» – «Sie sind es, die sie kennen.» – «Meine Wahrheit stimmt nicht mit Ihrer Wahrheit überein.»

Beim Giro d’Italia 2003, nicht einmal ein Jahr nach der Grenzkontrolle, wird Raimondas positiv auf EPO getestet. In diesem Fall ist die Sache klar: Obwohl er bereits im Konflikt mit dem Gesetzgeber steht, hat sich Raimondas nicht vom Doping abhalten lassen. Er wird für ein Jahr gesperrt. Später dominiert er italienische Amateurrennen, aber an die glänzende Saison 2002 kann er nie wieder anknüpfen. Es ist ein schleichender sportlicher Abstieg.

Wie der Vater, so der Sohn

In dieser schwierigen Zeit fangen die beiden Söhne, Linas und sein älterer Bruder Raimondas junior, selber mit dem Radsport an. All der juristische Ärger der Eltern und all der negative Medienrummel hält sie nicht davon ab, den Sport des Vaters zu wählen. Vielleicht werden die Sprüche, die sie ertragen müssen, sogar zum Ansporn. Der Ältere nimmt im September 2012 in Valkenburg erstmals an Junioren-Weltmeisterschaften teil, und eine Branchen-Webseite frohlockt: «Raimondas Rumsas setzt die Familientradition fort.» Er überzeugt vor allem im Zeitfahren, während sich Linas zu einem hoffnungsvollen Sprinter entwickelt.

Am 1. Mai 2017 wird Linas von seiner Freundin zusammengekauert im Haus der Eltern gefunden. Erst glaubt sie, er erlaube sich einen Scherz. Aber Linas hat gravierende Atemprobleme. Er geht ins Krankenhaus, die Ärzte finden jedoch nichts Besorgniserregendes und schicken ihn wieder nach Hause. Einen Tag später absolviert Linas noch eine Trainingsausfahrt. Nach seiner Rückkehr bricht er im Wohnzimmer zusammen. Sein Bruder findet ihn, nachdem er sein eigenes Velo gereinigt hat. Für jede Hilfe ist es bereits zu spät.

Zweifel an Todesursache

Lokale Medien ordnen den Tod des jungen Radfahrers zunächst als weiteren Unglücksfall in einem katastrophalen Frühjahr ein, in dem mehrere Athleten bei Verkehrsunfällen auf italienischen Strassen ums Leben kommen. Bei der Beerdigung sagt der Pfarrer: «Plötzlich ist alles vorbei. Als ob ein Flugzeug gegen einen Berg fliegt oder ein Boot an einem Felsen zerschellt.» Schon damals bezweifeln manche Beobachter, dass Linas an einem unerkannten Herzfehler oder Ähnlichem starb, aber sie sprechen das zunächst höchstens hinter vorgehaltener Hand aus.

Die beiden Geschwister planen, für den 4. Oktober ein Gedenkrennen durchzuführen. An jenem Tag wäre Linas 22 Jahre alt geworden. Sie starten ein Crowdfunding, um die Veranstaltung zu finanzieren. «Wir sind eine einfache Familie, die sich sehr nahe steht», schreiben sie. Linas sei in jeder Hinsicht ein phantastischer Typ gewesen. Immer verfügbar, wenn ihn jemand gebraucht habe. «Immer mit einem Lächeln, mit dem Wunsch zu leben und allen zu zeigen, wie wichtig es ist, in allem das Gute und das Positive zu sehen.» Die beste Art des Erinnerns sei es, das zu tun, was er am meisten liebte: Radfahren, Zusammensein und einen Nachmittag im Freien geniessen. «Alles begleitet von einem reichhaltigen Buffet.»

Zu dem Spendenaufruf stellen sie ein Video, das die Aussagen eindrucksvoll zu unterstreichen scheint: Zu sehen ist eine Collage von Familienfotos, auf der die Eltern und sämtliche Geschwister in die Kamera strahlen. Eine sorglose, harmonische Musterfamilie – so scheint es. «Sie waren still, aber freundlich», erzählt ein Nachbar der «Libération»: «Die Kinder waren sehr nett. Der Vater antwortete, wenn man ihn ansprach. Sie wirkten sehr vereint.»

Auch diesmal geht dem Absturz ein kurzer Moment des Triumphs voraus: Am 16. Juli attackiert Raimondas junior beim Freccia dei Vini, einem Rennen in der Lombardei, zwanzig Kilometer vor dem Ziel. Er siegt nach einer Solofahrt. Einen Tag später schreibt er auf Facebook:« Linas, wie gerne würde ich dich in meinen Armen halten und die Freude teilen, die ich hatte. Ich bin sicher, du warst gestern bei mir. Ich liebe dich, mein Bruder.» Am 7. September wird Raimondas junior bei einer Trainingskontrolle positiv auf das Wachstumshormon GHRP-6 getestet. Der Vorfall wird am 3. Oktober öffentlich, dem Tag vor dem Geburtstag des Bruders.

Die Staatsanwaltschaft ermittelt

Es ist mittlerweile üblich, dass sich ein Radteam bei einem Dopingverdacht umgehend vom eigenen Fahrer distanziert. Die Mannschaft Soligo Amarù Sirio geht aber einen grossen Schritt weiter: Sie behauptet, Raimondas habe gar nicht mehr dazugehört. Man habe ihm nur aus Sensibilität nach dem Tod des Bruders das Rad und die Bekleidung gelassen.

Jetzt geht es Schlag auf Schlag. Ebenfalls im September berichten italienische Medien, dass die Staatsanwaltschaft von Lucca wegen des Todes von Linas unter anderem gegen den Vater ermittle. Laut der Zeitung «Corriere della Sera» werden bei einer Razzia im Haus der Familie, in einem Auto und in einem weiteren Anwesen Insulin, Schmerzmittel, Spritzen und weitere Medikamente sichergestellt. Es gibt keinen Beweis für eine Verbindung zwischen den Medikamenten und dem Tod von Linas – aber die Familie macht sich verdächtig. Erst nachdem Raimondas senior juristisch unter Druck gerät, wirft Rasa dem Krankenhaus, in dem Linas untersucht wurde, via Facebook Nachlässigkeit vor. Und erst jetzt beklagt sich – fast zeitgleich – Edita, man lasse sie im Ungewissen, woran ihr Sohn gestorben sei.

«Heute sind wir ein Paar, das seinen Sohn verloren hat. Aber man will uns immer noch weh tun.»

Anfangs beschäftigte sie diese Frage offensichtlich weniger: Der Leichnam war auf Wunsch der Familie wenige Tage nach dem Ableben eingeäschert worden. Via «Corriere della Sera» verbittet sich die Mutter weitere Fragen. Sie sagt: «Vor fünfzehn Jahren waren wir ein Mann und eine Frau, die sich liebten und denen die Schuld an allem gegeben wurde, was in unserem Sport falsch war. Heute sind wir ein Paar, das seinen Sohn verloren hat. Aber man will uns immer noch weh tun.»

Seit wenigen Tagen ist es offiziell: Auch Raimondas junior ist ein Dopingtäter. Sein Fall ist eindeutig. Der 23-Jährige ist jetzt für vier Jahre gesperrt. Er und Rasa haben noch einen kleinen, minderjährigen Bruder. Es gibt eine Aufnahme, auf der Renato Rumsas glücklich strahlt. Er sitzt auf einem Rennrad.

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