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die Rolle der Ärzte im Dopingkomplex und Suchtproblematik



Doping und Sportmedizin: ein schwieriges Verhältnis

 

Christophe Brissonneau ist Forscher am Institut für Sport und Kultur der Universität Paris-X-Nanterre. Als ehemaliger Hochleistungssportler besuchte er in den 80er Jahren das l'Institut national du sport et de l'éducation physique (Insep), die französische Kaderschmiede für Hochleistungssportler. Er arbeitete an dem Thema "Entrepreneurs de morale et carrières de déviants dans le dopage sportif“ („Moralische Unternehmer und Karrieren Devianter im Sport-Doping“), worin er die Position von Sportmedizinern zu  Doping-Fragen analysiert. 

 

In dem Le Monde-Interview 'L'attitude ambivalente des médecins du sport face au dopage', erschienen am 25.12.2003, gibt Christophe Brissonneau einen kurzen Einblick in seine Erkenntnisse.

 

Das Interview behandelt zwar Verhältnisse in Frankreich, doch wird man vieles verallgemeinern können.

Seine Erkenntnisse erläutert er auch in einem Chat von le Mone. Die Übersetzung ist >hier zu finden.

 



Sportmediziner und Doping: hin und hergerissen?

(...)

Man kann wahrhaftig ein doppeltes, ein ambivalentes Herangehen an die Sache von Seiten der Mediziner feststellen. Als Hygieniker sind sie gegen den Konsum großer Mengen pharmakologischer Produkte (Doping), aber sie entwickeln gleichzeitig wissenschaftliche Forschungsprojekte, deren Ziel es ist, die Regeneration zu fördern. So erscheinen sie auf der einen Seite als „moralische Unternehmer“ wie es der amerikanische Soziologe Howard Becker nannte: Über die verschiedenen Antidopinggesetze hinweg (1965, 1989, 1999) und als Teil der Instanzen, die beauftragt waren die Reinheit der Leistung (Verbände, CLPD) zu beurteilen, arbeiteten sie mit an der Definition von Doping und beobachten deren Anwendung, indem sie die Sportwelt „überwachen“. (1)

 

Auf der anderen Seite beteiligen sie sich paradoxerweise daran, die Sportler bis an die Grenzen ihrer Möglichkeiten zu treiben, indem sie ihnen mehr und mehr verwissenschaftlichte Trainingsmethoden vorschlagen,  um die Leistungen zu verbessern. Die Sportler, die mit einem Zustand gesteigerter Erschöpfung konfrontiert werden, verlangen von der Sportmedizin für die Regeneration immer wirkungsvollere Mittel.

(...)

In den 60er Jahren verlangte die gaullistische Regierung sportliche Erfolge: die Größe und Ausstrahlung Frankreichs wurde auch über die internationalen Podien verbreitet. Um dies zu erreichen, entwickelte der Staat spezifische Strukturen für den Hochleistungssport (Olympiavorbereitung, das Lycée von Font-Romeu, dann Insep),  alle haben einen medizinischen Dienst, der die französische Sportelite betreuen soll. (...)

Eine wichtige Änderung ergab sich 1978 : der Staat, der die Trainingsbedingungen im Hochleistungssport verbessern wollte, installierte beim Insep eine neue Art der Sportmedizin, Spezialisten der Leistungsphysiologie. Sie ‚testeten’ die Sportler unter Laborbedingungen, berieten sie und brachten ihnen neue Trainings- und Regenerationsmethoden bei.

Die Konsequenz: man erlebt eine Zunahme von Verletzungen, die auf das stressende Training zurückgehen. Die Hochleistungssportler werden mehr und mehr abhängig von Medikamenten. Sie finden es normal oft verletzt zu sein, von Medizinern verpflegt zu werden und verschriebene (autorisierte) Medikamente einzunehmen. Ihre pharmakologische Hemmschwelle, ihre Vorstellung von Gesundheit sind daher nicht mehr dieselben wie in unserer ‚normalen’ Welt.

(...)

Man kann die Gesundheit eines Menschen, der sechs Stunden pro Woche Sport betreibt nicht vergleichen mit der Gesundheit eines anderen, der 25 Stunden zu 100% am Limit ist. Die gedopten Sportler, die mir ihre langen Phasen physischer Erschöpfung – und manchmal auch mentaler – als Folge eines intensiven Trainings beschrieben haben, bestehen auf der Bezeichnung ‚Erholung’. Sie beschreiben einen physischen Zustand, der quasi krankhaft ist, bei dem die Einnahme gewisser Dopingmittel ihrer Meinung nach das geringere Übel wäre angesichts ihres hormonellen Defizits. Dieser Zustand und die Kompensation der Defizite wurde von gewissen Medizinern die Wiederherstellung des hormonellen Gleichgewichts (le rééquilibrage hormonal (2)) genannt. (...)

 

Es ist schwierig sie zu quantifizieren, da diese Praxis gesetzlich verboten ist. (...) Je näher diese den alltäglichen Leiden der Sportler sind, desto mehr haben sie ‚Verständnis’: es fällt ihnen schwer, ihren ‚Patientenfreunden’ gegenüber nein zu sagen. Jene, die bereit waren mit mir zu reden, gehören oft dem Kader von Nationalmannschaften an. Sie teilen die Freuden, die Hoffnungen aber auch die Leiden der Sportler, die sie begleiten. (3)

(...)

In den 60er Jahren drückten die Sportärzte bereits ihren Wunsch aus den Trainer beraten, wenn nicht gar ersetzen zu wollen. Die Festina-Affaire verdeutlichte die maßgebliche Rolle der Mediziner, die in einigen Radsport-Teams mehr oder weniger die Stelle der Trainer einnahmen. Das Ganze kippte als Folge des Stundenweltrekords von Radchampion Francesco Moser, der trainiert wurde von Doktor Conconi. Ein Fahrer berichtete mir, dass er Anfang der 90er Jahre nach Italien ging um sich zu ‚präparieren’. Der medizinische Stab braute ihm aufgrund seiner Leistungstest einen Doping-Trainingsplan für 400 000 FF zusammen. Die Lektüre des Dopingprotokolls zeigt uns, dass die Einnahme der Pharmazeutika vollständig integriert ist in den Trainingsplan. Entsprechend den Gegebenheiten im Verlauf eines Jahres sind die notwendigen Energieeinsätze unterschiedlich, ebenso wie die Dopingprodukte, die darauf Rücksicht nehmen. Durch diese extreme Rationalisierung des Trainings konnte er seine Leistung bis hoch auf Weltniveau verbessern.

 

Dies betraf nicht allein den Radsport. Andere Zeugen bestätigen, dass im Wartezimmer der ’Sport-Präparateure’ mehrere Sportarten vertreten waren. Ein Athlet hat mir sogar erklärt, dass Mitte der 90er Jahre angesehene Mediziner, Sportmediziner in hochverantwortlichen Positionen, die in engem Kontakt zu Hochleistungssportlern standen, auf ihn zukamen um ihn entsprechend ‚präparieren’ wollten. Wie er sagte, wurde dieser Vorschlag mehreren französischen Meistern der damaligen Zeit gemacht.  

 

(1) Howard Becker , Soziologe, prägte den Begriff des „moralischen Unternehmers“. Er meint damit Personen, die in der Lage sind ihre Überzeugungen über das was Gut oder Schlecht ist, in gesellschaftlich gültige Verhaltensregeln umzusetzen, die also die moralische Richtung vorgeben. Dazu bedarf es durchaus 'unternehmerischer'  Fähigkeiten und Praktiken, z.B müssen eventuell 'moralische Kreuzüge' gestartet werden, um den gewünschten Prinzipien Allgemeingültigkeit zu verschaffen.

 

(2) le rééquilibrage hormonal : in Deutschland spielte diese ‚hormonelle Substitutionshypothese’ bereits in den 70er Jahren eine bedeutende Rolle in der Dopingdiskussion um die Verwendung der Anabolika. Die bekanntesten deutschen Sportmediziner, darunter auch Professor Joseph Keul von der Universität Freiburg, vertraten diese Meinung.

Heinz Liesen, Sportarzt, äußerte sich 1977 vor dem Deutschen Bundestag wie folgt:

Wir wissen z.B. aus dem Radsport, aus der wissenschaftlichen Betreuung von Profiradsportlern und auch von Amateuren, dass viele Athleten z.B. bei Etappenrennen nach mehreren Tagen einen Einbruch der Leistungsfähigkeit und auch einen Einbruch der körperlichen Gesundheit dergestalt haben, dass sie gegenüber Infekten anfällig werden oder auch manifest erkranken. Die Empirie der Athleten zeigt uns, das sie sich aus dieser Erfahrung heraus vorher ein anabol wirksames Hormon spritzen lassen, z.B. Testosteron, und dann diese Erkrankungen, diese Abfälle in der Leistungsfähigkeit nicht auftreten.“ (Singler/Treutlein, Bd.1, S. 230) 

 

(3) die Bedeutung dieser starken Empathie wird auch in anderen Untersuchungen hervorgehoben

 

 

Beitrag von maki

März 2004


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