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2002 - das Jahr in dem wir (keinen) Kontakt aufnahmen

 

Wettbewerbsbeitrag von Ingrid

 

Wenn mensch sich für ein Thema begeistert oder, um es populär auszudrücken, zum Fan mutiert, schärfen sich zum einen die diesbezüglichen Sinne und die selektive Wahrnehmung tritt in Kraft. Zum anderen entwickeln sich gewisse Sensibilitäten. In der normalmenschlichen (was nicht heißen soll, Radsportfans seien abnormal...) Kommunikation harmlose bzw. nicht von vorneherein negativ belegte Begriffe wie zb „50 %“, „Zentrifuge“, „Discothek“ oder auch „Schwangerschaftshormon“ bringen es hingegen bei der Spezies Radsportfan fertig, sogar die Nasenhaare zu Berge stehen zu lassen.

 

Diese begrifflichen Sensibilitäten gehen sogar bis zur völligen Umkehrung der gemeinen Wortbedeutung in der Wahrnehmung des Radsportfans, positiv ist gleich negativ, negativ ist hingegen sehr positiv. Der Kauf einer Armbanduhr kann Assoziationen der wirklich unangenehmen Art hervorrufen. Das Abzapfen von Blut bei der alljährlichen Gesundenuntersuchung ist vielleicht auch für Durchschnittsmenschen keine angenehme Angelegenheit, gestaltet sich beim Radsportfan mitunter aber allein ob der gedanklichen Verkrampfung schwieriger als eine Versuchsbohrung nach Öl.

 

Das Radsportjahr 2002 hat diese und diverse andere persönliche Empfindlichkeiten inkl. der bekannten „warum immer ich bzw. warum immer die, die ich mag“-Paranoia wieder hervorragend bedient.

 

Die Frühjahrsklassiker plätschern dahin, Höhepunkte sind die Auftritte der gesetzten Herren Cipollini, Tafi und Museeuw (je älter man selbst wird, umso mehr widmet man die Aufmerksamkeit fast gleichaltrigen). Die Nasenhaarfraktion wird von diversen Minirazzien der italienischen Behörden und im Zuge dessen von neuesten Erkenntnissen über den kausalen Zusammenhang weiblicher Fertilität mit männlicher Leistungssteigerung auf dem Rad bedient.

 

Der Lieblingsfahrer wirkt nach so lala-Saisonstart in Spanien pünktlich zum näherrückenden Giro hin mehr und mehr konsequent paralysiert und erweckt spätestens bei den Ardennenklassikern den Eindruck, selbst Freimaurern auf Klappfahrrädern nicht mehr gewachsen zu sein.

 

Andere Helden kündigen ihren Rücktritt an (die einen gewinnen wenigstens noch ein letztes Rennen, andere existieren scheinbar nur noch in den eigenen Zwangsvorstellungen), fahren nur noch spazieren oder denken über ihr Knie nach und lassen sich von wildfremden Personen in die bereits angesprochenen Nasenhaar-Schwierigkeiten bringen.

 

Der erste Saisonhöhepunkt, genannt Giro, gerät in mancher Hinsicht geradezu zu einer Karikatur seiner selbst. Mein persönlicher sentimentaler Favorit vermittelt bereits beim ersten RAI-Interview den Eindruck schweren Schockzustandes in Verbindung mit Lähmungserscheinungen, was sich sportlicherseits bereits in den ersten Etappen aufs schönste/schlimmste bestätigt.

 

Stefano Garzelli, kaum im rosa Trikot, wird mit einem Diuretikum erwischt (das Dasein als Radsportfan vermittelt Fremdwortkenntnisse der Sonderklasse), Gilberto Simoni erweist sich als hellsichtig („Stefanos Fall war nicht der erste und wird nicht der letzte sein“ copyright RAI), nimmt ein paar peruanische Bonbons zu viel zu sich und fährt ebenfalls früher als geplant nach Hause. Der Rauswurf erweist sich im nachhinein als völlig ungerechtfertigt, wenn jetzt schon unaufmerksame Tanten ein Vergehen darstellen, wohin soll das noch führen, bitte?

 

Francesco Casagrande, an sich nicht gerade als Temperamentsbolzen bekannt, verliert ebenfalls kurz die Nerven und katapultiert sich nach einer kleinen Ringkampfeinlage aus dem Bewerb. Es bleiben einige schöne Etappen und einige wirklich nette Jungs (Evans und die jungen Italiener sowie Babyface Savoldelli als Sieger) und ein objektiv (...) spannendes Rennen, aber für mich zählt das soviel wie eine Schweizer Teppichklopfverordnung.

 

Die Tour de France wird ihrem Ruf als DAS Radsportereignis des Jahres in jeder Hinsicht gerecht und bietet nach einem an Spannung nicht zu überbietenden Rennverlauf mit Lance Armstrong einen völlig unerwarteten Sieger. Immerhin hat Lance das erste Zeitfahren verloren! Mit 11 Sekunden Rückstand! Die Spekulationen wuchsen ins Unermessliche! „Ist das der Anfang vom Ende der Armstrong-Ära?“ (copyright K. Volk). Lance verliert die Tour! Es wird SPANNEND...oder auch nicht...abgesehen von der Judoeinlage zwischen Sastre und Moreau ist ein Diätzwieback wohl unterhaltsamer als die Tour 2002.

 

Der Unvollständigkeit halber: Das Podium komplettieren Joseba Beloki (wie immer taktisch perfekt eingestellt) und Raimondas Rumsas, womit der Beweis erbracht wurde, dass bei der Tour auch unsichtbare Teilnehmer zugelassen sind. Zumindest im Epilog zum Großereignis sorgte Gattin Edita Rumsas für visuelle Indizien der Anwesenheit ihres Gatten beim Großereignis, wenn auch bedauerlicherweise in Form von auf dem Nasenhaar-Index befindlichen Ampullen und Pillen. Allerdings waren die Substanzen nur für die Schwiegermutter gedacht, was die Gemüter wiederum beruhigte. Mehr oder weniger.

 

Der persönliche Vorliebefahrer war inzwischen 34 Mal für vier Jahre oder 8 Monate (ein unwesentlicher Unterschied) gesperrt und 35,5 Mal wieder freigesprochen worden, um die 36 zu vollenden wurde auch das wieder aufgehoben und der derzeitige rechtliche Status von Signore P. ist wohl nur einer juristisch gebildeten Amöbenkolonie auf dem Hubbleteleskop und vielleicht dem Staranwalt Richard Fish (wir kennen ihn als den Boss von Ally McBeal) bekannt. Wenigstens konnte Gilberto Simoni aufgrund der in jeder Hinsicht völlig unerheblichen Tatsache zweier positiver Dopingtests von allen Vorwürfen zweifelsfrei und ohne jegliche juristische Keilereien freigesprochen werden.

 

Inzwischen gewann Aitor Gonzalez die heimlich (oder auch unheimlich) bedeutenste GT der Saison, die Vuelta a Espana, wenn auch der schwierigste Anstieg der Radsportwelt, genannt Angelrute (spanisch Angliru) von Roberto Heras siegreich bezwungen wurde. Die Strafe folgte auf dem Fuß, er wurde beim letzten Zeitfahren vom Siegespodest auf den 2. Platz strafversetzt. Man kann nicht alles haben! Entweder Sieg bei der bedeutensten Rundfahrt oder Sieg am bedeutensten Berg! Darüber hinaus ließ die Vuelta die Nasenhaare unangetastet. Wie eigentlich immer. Wenigstens dort herrscht noch eine gewisse Moral!

 

Herr Cipollini krönte seine wirklich schöne Saison mit dem WM-Titel und die squadra azzurra erstaunte die Radsportwelt mit einem perfekten geschlossenen Formationsflug. Ein bemerkenswertes Ereignis nach den „was dein ist ist auch mein und was mein ist geht dich nichts an“-Lachnummern der jüngeren Vergangenheit. Und darüber hinaus ein schöner Anblick, auch das muss frau einmal betonen. Gratulation. Und um die italienische Radsportgroßzügigkeit voll zu würdigen, gewann Paolo Bettini auch noch den Weltcup. Gratulation. Und nicht zu vergessen: Fabiano Fontanelli bewahrte Fontanelli aka Mercatone Uno vor dem totalen, wenn auch nicht ziemlichen saisonalen Super-Gau. Gratulation. Und zu guter Letzt sorgten auch die Landsleute für erfreuliche Farbtupfer im Peloton und eine außerordentlich erfolgreiche Saison aus Ösi-Sicht. Gratulation. Dass auch unter ihnen einige die Nasenhaar-Abteilung bedienten, sei am Rande erwähnt.

 

Ergebnisse aus persönlicher Sicht: Die ersten weißen Haare sowie ein paar bleibende Stirnfalten mehr und die erstaunliche Feststellung, dass sich menschliche Augenbrauen bis in die tiefsten Tiefen der Augenhöhlen wölben können. Und vor allem die Erkenntnis: Traue Tanten und Fremden nicht! Das gibt nur Ärger!

 

Und natürlich die Sache mit den Nasenhaaren!


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