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Paris Roubaix 2001

Text: Sven

Fotos: svl

 

<typohead type="3">30 Sekunden Ewigkeit </typohead>

 

Es war schon seit Jahren geplant. Immer wieder haben wir uns hingesetzt und darüber nachgedacht, wie wir am besten Teil der Legende werden könnten. Immer wieder ist etwas Nichtiges dazwischen gekommen. Aber das Verlangen wurde immer größer. Nicht dieses Mal. Dieses Jahr würden wir uns Paris - Roubaix nicht entgehen lassen.

 

Drei Freunde, drei Radsportbegeisterte, ein Ziel: Die Hölle des Nordens. Die 99. Ausgabe von Paris - Roubaix, dem geachtetsten und zugleich gefürchtetsten Eintagesrennen, das der Radsport kennt. Das heißt bereits 98 Mal Kopfsteinpflaster, Wind und schier unüberfahrbare Feldwege. Dazu die üblichen nordfranzösischen Wetterunwägbarkeiten. Regen bedeutet zusätzlich Schmutz, Matsch und Glätte. Das sintflutartige Wetter der Vortage, das Mitte des Rennens überhaupt erst ein Ende finden sollte, hatte die holprigen, mit Schlaglöchern übersäten und ungeschützten Landwege in eine einzige schmierige Schlammlache verwandelt. Strömender Frühjahrsregen hatte die ohnehin schon abschreckenden Kopfsteinpflastersektionen geflutet. Die örtlichen Feuerwehren, eingesetzt am Vortag, taten unter Einsetzung ihres gesamten Instrumentariums das ihr Mögliche, um diese Sektionen überhaupt fahrbar zu machen. Dazu eine Gegend, in der Radsport nicht nur eine Fitnessübung ist. Sondern Religion. Und die Fahrer Heilige.

 

Hier, bei Paris - Roubaix finden die Bedingungen ihre Schnittmenge. Ein Rennen, das alles hat, was eine Legende braucht. Und wir wollten hautnah dabei sein, mit jedem Lungenzug die Stimmung, die Leidenschaft, die Begeisterung einer ganzen Landschaft einatmen.

 

Begeisterte Fans im Matsch


Meine Oma pflegte zu sagen, gründliche Vorbereitung sei die Mutter aller Erfolge. Das bedeutete zunächst den Kauf einer Karte, auf der auch der kleinste und verlassenste Feldweg inklusive der ortsansässigen Kühe verzeichnet ist. Und es bedeutete das frühe Verlassen der eigenen Behausung bereits vor Sonnenaufgang. Während die Nachbarschaft noch dem Ostereiersuchen entgegendöste, stiegen wir fröstelnd aus unseren Betten, lauschten noch einem Moment dem Regen und zwangen uns unter die Dusche. Danach etwas hastig die Brote geschnitten, die fertige Mahlzeit in die zuverlässige Alufolie gelegt, das Auto aus der Enge des Parkplatzes befreit und seiner Bestimmung zugeführt.

 

Den Weg nach Belgien und weiter nach Frankreich kennt man ja noch aus dem Erdkundeunterricht. Der Grenzübertritt verläuft für weniger Erfahrene ein klein bisschen enttäuschend. Keine Zöllner, keine Uniformen, keine Kontrollen. Zunächst sogar noch nicht einmal andere Nummernschilder an den Autos. Aber als die Displays der Handys anfingen skurrile Dinge von belgischen Telekommunikationsunternehmen anzuzeigen und die Verständigung zwischen uns und dem Radiomoderator spürbar schwierig wurde, waren wir uns sicher: Belgien war erreicht. Das Mutterland des Radsports. Wo Radhelden auch Volkshelden sind. Einer von uns sprang gleich am nächsten Parkplatz aus dem Wagen, ging in die Knie und küsste die Erde. Das jedoch erschien mir übertrieben.

 

Auf dem weiteren Weg in Frankreichs Norden wurden die kleinsten Sträßchen gesucht und gefunden, jedoch ohne auf eine explizite Wegbeschilderung zurückgreifen zu können. Die Belgier scheinen an dieser Stelle sparen zu müssen, was aber noch nicht erklärt, warum auf den ersten Kilometern an jeder Kreuzung ein Hinweisschild steht, dann auf einmal keines mehr. Aber können Menschen, die auf dem Wege zu einer Legende sind, von solchen Kleinigkeiten aufgehalten werden? Natürlich nicht. Der Geruch des Rennens war bereits in der Nase und die Fährte aufgenommen.

 

Der im Vorfeld auserkorene Ort war nicht schwer zu finden. Unzählige Plakate, Hinweisschilder und Bemalungen von Fans für ihre Idole säumten den Weg. Das für unerfahrene Camper neue Geräusch von Kompressormotoren drang in unsere Ohren. Der Fernseher auf dem Armaturenbrett muss schließlich seinen Strom bekommen. Die Dinger auf den Dächern der Wagen sollten wohl Antennen sein. Autos, Lieferwagen und Wohnmobile, die kurzfristig zu Fernsehstudios umgewandelt worden waren, standen anarchisch in der Landschaft. Sogar eine Touristenzentrale war zu finden. Eigentlich hatte sie nicht so richtig geöffnet. Als wir aber eine halbe Stunde versuchten, uns vor dem Schaufenster zu orientieren, kam eine fast zu freundliche Person heraus und erzählte uns alles, das wir wissen wollten und noch viel mehr. Bedeutung von Platz und dessen Geschichte im Allgemeinen sowie im Speziellen. In einem wahrlich entzückenden Sprachenmix aus Deutsch, Französisch und Englisch. In genau dieser Reihenfolge. So ging es, ausgestattet mit den aktuellsten Materialien über Rennen, Menschen und Region, auf die Suche nach einem örtlichen Supporters-Café, einem Ort der Zusammenkunft von Sympathisanten, mit zwei oder drei Fernsehern in Blickweite, das gleichzeitig als Diskussionsforum dient. Nicht zuletzt seine Eigenschaft als Quelle für die geeigneten Kaltgetränke sollte für uns seine Bedeutung haben. An einem solchen Ort wollten wir die ersten drei Stunden des Rennens am Fernseher verfolgen.

 

Wenige Stunden später war es soweit. Die Fahrer näherten sich unserer Ortschaft.

 

Mit Gänsehaut verließen wir das Café, um uns an der im Vorfeld ausgesuchten Stelle der Wegstrecke einen guten Platz zu suchen. Natürlich musste diese an einer Kopfsteinpflasterpassage (oder Pavé, wie der Experte jene Straßen- oder besser Feldwegbelage nennt) liegen, die dieses Rennen zu genau jenem machen, das es ist. Zu einem, zu dem Menschen auch 1000 km Anfahrt in Kauf nehmen. Zu einem, von dem nicht nur die Fahrer, sondern auch die Zuschauer noch Jahrzehnte später sagen: "Ich war dabei".

 

Kopfsteinpflaster also. Dazu noch eine leicht ansteigende Strecke. Links und rechts an den Rändern Schlaglöcher, gefüllt mit einer furchteinflößenden Mixtur aus Schlamm und Wasser. Zuschauermassen bereits allerorten. Zwanzig Meter weiter einige belgische Witzbolde mit einem Plakat. "Parky", nicht eben professionell gestaltet, aber immerhin ein Plakat. Ein Parketthersteller, was die Frage aufwirft, warum in Belgien und Nordfrankreich Inneneinrichtung, Wand- und Bodenbeläge im direkten Zusammenhang mit Radsport zu stehen scheint. Als Sponsoren sind solche Unternehmen überdurchschnittlich häufig vertreten. Es muss eine ganz eigene Art von Humor sein, gerade in diesem Rennen, unter diesen Bedingungen als Sponsor für Bodenbeläge aufzutreten. Eine gewisse Ironie kann man denen zumindest nicht absprechen. Keiner der Umstehenden weiß, was dieses Plakat genau soll. Aber alle feiern mit. Jene Plakathalter, maximal 25 Jahre alt, sind es, die die Stimmung noch weiter ankurbeln. Den Moment ausnutzen, bei dem die Zuschauer zwischen Begeisterung und Ungeduld schwanken. Mit dem Megaphon wird auch der letzte Zuschauer erreicht. Für uns wäre es perfekt, würden wir jetzt auch noch Belgisch verstehen.

 

Die ersten Streckenfahrzeuge kommen vorbei. Rasen vorbei. Jeder für sich frenetisch begrüßt. Und alle müssen unter diesem Parky-Plakat hindurch, dass ein klein wenig zu niedrig eingeplant scheint. Die Phantasie tobt ungezügelt. Was, wenn dieses Plakat einige Fahrräder vom Dach eines Begleitfahrzeuges holt? Wie schnell kann man damit wohl das Weite suchen? Wie würde es sich an der Wand im Wohnzimmer machen? Irgendjemand reißt mich aus den Träumen. Er deutet in den Himmel, wo sich die Schemen eines Hubschraubers abzeichnen. Nein, es sind sogar drei, sogar vier. Und versierte Radsportbegeisterte wissen: Wo Hubschrauber, da Rennen. Wie weit mögen sie noch entfernt sein? Wie ist die Rennsituation? Noch immer die Gleiche wie beim Verlassen des Cafés? Die Hälfte der Zuschauer ist besser ausgerüstet als wir. Radios an den Ohren und sogar Minifernseher in Hüfthöhe. Dazu ein schmales Lächeln auf den Lippen, das die geistige Abwesenheit zeigt. Gefangen im Rennen.

 

Die Gruppe der Favoriten


Dann die untrüglichen Signale, dass die Hauptpersonen sich nähern. Ein Auto rast vorbei, es ist ein bunt beklebter Mercedes mit dröhnender Hupe, und mit einem Streckensprecher, der weit aus dem Fenster gelehnt versucht, die Hupe mit seinem Gebrüll zu übertönen. Er hat die leichte Aufgabe, die Zuschauer in Stimmung zu bringen. Und die Schwere, die Rennsituation wiederzugeben, jeder Zuschauer kann ihn maximal zwanzig Sekunden lang hören. Danach die Gendarmerie. Und die Presse. Auf Motorrädern, die offensichtlich schon eine Menge mitgemacht haben. Das Juryfahrzeug, auch ein Mercedes, mit offenem Schiebedach aus dem der Rennleiter mit schiefer Mütze ragt, um das Rennen zu beobachten. Getöse aus allen Richtungen. Sogar von der Seite, wo ein Hubschrauber in Kopfhöhe hinter den Zuschauerreihen fliegt. Ein Hauch von "Apocalypse Now" weht zu uns herüber.

 

Alles passiert in rasender Geschwindigkeit. Man will alles sehen, alles hören, alles mitbekommen, aber die Gefahr ist groß, statt dessen alles zu verpassen. Man muss sich konzentrieren und gleichzeitig alles in sich aufsaugen, den Lärm, den Jubel, die Massen, die Stimmung, um es in späterer Stunde wieder abzurufen und zu genießen.

 

Der erste Fahrer kommt in Sicht. Der Standpunkt ist gut gewählt, die Strecke ist weit einsehbar, so dass wir etwas länger Zeit haben, die Fahrer zu erfassen. Wilfried Peeters ist der erste. Leicht zu erkennen, war er doch schon während der Übertragung der Führende. Das Gesicht ist nicht zu sehen. Die Schlammschicht muss mindestens einen Zentimeter dick sein. Auszumachen sind nur das Rote der Lippen und das Weiße der gefletschten Zähne. Selbst die belgischen Witzbolde gehen mittlerweile in der Stimmung unter. Die Massen rücken noch dichter zusammen und noch dichter an die Straße. Die Welt steht in geschlossener Reihe und wird nicht zur Scheibe.

 

Direkt hinter Peeters ein neutrales Materialfahrzeug. Also noch mindestens 30 Sekunden bis die Verfolger kommen. Aber auch keine Minute mehr, sonst wäre es ein anderes Fahrzeug. Da sind die Regeln sehr genau. Die Kalkulation erfolgt im Unterbewusstsein, denn wir haben gerade Zeit genug, uns ungläubig anzusehen. Aber es stimmt, wir sind dabei. Zwicken und Kopfschütteln ändern nichts an dieser Tatsache. Es ist kein Traum.

 

Die Kolonne der Gendarmerie- und Pressemotorräder lässt keine Lücken mehr. Und immer wieder die Hubschrauber. Die Verfolgergruppe ist in Sicht. Wer ist das vorne? Schon der Wesemann? Nein. Hincapie. Hincapie, der amerikanische Hasardeur. Ludo muss doch auch irgendwo sein. Es geht so schnell. Unzählige von Kopfsteinen und jeder davon ein Pfahl im Fleische. Und die Jungs fahren mit 40 Sachen drüber. Aber Musseuw noch schnell erkannt, Gott sei Dank, er ist dabei. Und Vainstains, der muss doch leicht zu erkennen sein, am Trikot des Weltmeisters. Nur sehen alle Trikots hier gleich aus. Alle haben die Farbe des nordfranzösischen Schlicks. Aber zum Schluss doch noch der Wesemann, ganz hinten in der Gruppe, aber noch dran. Und auch schon vorbei.

 

Neben uns verlieren viele Zuschauer keine Zeit. Flugs um die eigene Achse gedreht und über den Kartoffelacker zum bereitstehenden Bus und den bereitstehenden Autos gerannt. Und wir hatten uns schon gefragt, warum da ein Bus mitten in der Landschaft stehen mag. Hier ist die Antwort. Nur so gibt es die Möglichkeit, die Rennfahrer beim übernächsten Pavéstück gleich noch einmal sehen zu können. Ortskenntnis und Erfahrung sind alles. Die Verblienen strahlen sich noch an und stecken ihre Köpfe wieder Richtung Radio und Fernseher. Aber die Gruppe um Tafi war noch nicht da. Und ohne Tafi, den Heroen von 1999, gesehen zu haben, gehe ich hier nicht weg. Eine Minute vergeht. Dann wieder Polizeiwagen, wieder Materialwagen, wieder Juryfahrzeuge. Aber diesmal keine Hubschrauber. Dafür aber Tafi. Hast Du ihn gesehen? Ich ja. Der Tag ist gerettet.

 

Aber das kann doch noch nicht alles gewesen sein? Nur 25 Fahrer? Wo ist das Feld? Die Angst, den Zieleinlauf im Fernsehen womöglich zu verpassen, treibt uns wieder zu unserem Café. Wir laufen auf der Strecke entgegen der Fahrtrichtung. Gut so. Keine hundert Meter später wieder Aufruhr. Die nächste Gruppe naht heran. Auch diese Fahrer werden noch mit der angemessenen Begeisterung empfangen. In Gedanken sind die Meisten jedoch schon auf dem Weg zum nächsten Fernseher. Denn wichtige Fragen stehen noch an: Holt die Gruppe um Musseuw den Peeters wieder? Kann noch einer springen? Und: Wer gewinnt?

 

Ohne Worte ....


Im Café fanden wir eine veränderte Szenerie vor. Schon vorher bei bedeutungsschwerer Stimmung gut gefüllt, war es bei unserer Rückkehr tumultartig. Drinnen, inmitten von hundert euphorischen Franzosen und Belgiern konnte man die Beine anheben ohne zu stürzen. Und von außen drängten weitere Hoffnungsvolle, die irgendwie auch noch hineinkamen. Das Fassungsvermögen dieser Kneipe schien ohne Grenzen zu sein.

 

Gewonnen hat schließlich Servais Knaven, ein Niederländer, vor seinem Teamkollegen Musseuw, dem belgischem Helden. Dies veranlasste einige seiner Fans, mit Tränen der Rührung, aber auch der Verzweiflung in den Augen nach Hause zu gehen. Genau dahin zog es nach dem Zieleinlauf auch uns. Noch ein melancholischer Blick durch den Ort, ein geruhsamer Gang zurück zum Auto und in langsamer Fahrt über die Dörfer, über das Land in Richtung Heimat. Natürlich nicht, ohne vorher je eine große Portion "Frites avec sauce" zu versuchen.

 

Es war still im Auto. Jeder für sich in Gedanken und Ehrfurcht versunken, bei dem Versuch, das Erlebte, das Gefühlte, das Gesehene zu erfassen und vor dem geistigen Auge noch einmal abzuspulen. Nur das Radio gab noch Laut und periodisch wurden wir in unserer Ergriffenheit von einem kräftigen "Fun Radio - Centdeux Point Sept fm" aufgerüttelt und dorthin zurückgebracht, wo wir waren. In Frankreich, zu Gast in der Hölle des Nordens.


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