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Operation gelungen? Patient tot?

von torte, 15.11.2006

 

Was hat die „Operación Puerto“ dem Profiradsport gebracht? Sie hat gezeigt, dass eine Menge Fragen unbeantwortet sind. Keine neuen Fragen, aber die Ermittlungen der spanischen Guardia Civil stellen sie nun bohrender denn je.

Ist es wirklich möglich, schwere Eintagesrennen über mehr als 200 Kilometer in Geschwindigkeiten von über 40 km/h zu bestreiten? Ist es trainingsmethodisch erklärbar, wie einzelne Profis an schweren Alpenanstiegen über Stunden an ihrer Leistungsgrenze fahren – und am nächsten Tag mit gleicher Leistung die Pyrenäen bezwingen? Sind Minutenabstände auf dem Podium bei Einzelzeitfahren in der Topelite wirklich mit der Tagesform zu begründen? Die Leistungen des oft als „Bester Radprofi aller Zeiten“ gefeierten Eddy Merckx bringen heute die Edelhelfer in den Grand Tours – die Kapitäne heutiger Rundfahrten würden den (damals alles andere als „sauberen“) „Kannibalen“ stehen lassen wie einen ambitionierten Jedermannfahrer. Alles nur Weiterentwicklung von Material, Ernährung, Training? Oder doch pharmazeutisches Tuning, Blutmanipulation, Insulin- und Hormondoping unterhalb der Nachweisbarkeit?

 



Wie wahrscheinlich ist es, dass die sportlichen Höchstleistungen, die wir heute bejubeln, ohne medizinische Nachrüstung erbringbar sind? Wie wahrscheinlich ist es, dass sich diese Frage noch nie ein Trainer oder Sportfunktionär gestellt hat? Und wenn sich Sportler, Funktionäre, Trainer diese Frage gestellt und vielleicht auch beantwortet haben: Warum gibt es dann den Profisport, wie wir ihn heute kennen? Haben alle jahrzehntelang die falschen Schlüsse aus den scheinbar übermenschlichen Leistungen der Athleten gezogen? Oder haben alle genau Bescheid gewusst – und geschwiegen? Mitgespielt?



Unentkräfteter Verdacht

Der Verdacht auf flächendeckende medizinische „Fürsorge“ im Profi(rad)sport steht seit der Veröffentlichung der Ermittlungsberichte der spanischen Behörden beklemmender denn je im Raum. Die Hilflosigkeit, wie Sport, Politik und Medien mit diesen Ermittlungen umgehen, ist beinahe genauso erschreckend. Juristische Nebelkerzen, mediale Eitelkeiten, politische Profilierungssucht behindern die rasche Aufarbeitung der „Operación Puerto“, deren anfängliche Explosivkraft mittlerweile auf die eines Tischfeuerwerks geschrumpft ist. Längst sind die Beteiligten wieder aktiv – sei es im Sattel oder im Teammanagement. Die alte Tradition des Schweigens und Aussitzens im Profisport bestimmt erneut das Geschehen, ganz im Gegenteil übrigens zu den vollmundigen Ankündigungen der verdächtigen Fahrer, sie würden „alles tun, um ihre Unschuld zu beweisen.“

Allerorten versteckt man sich hinter der Vermutung, es könne sich doch alles als Irrtum und Intrige herausstellen. Doch wer hat wirklich ernsthaft diese Vermutung – außer dem Gesetz?

 



Hilfe oder Selbsthilfe?

Wie es nun weitergehen soll? Wer ist überhaupt in der Lage, Zustände zu verhindern, wie sie die spanischen Ermittlungen als vorstellbar nahe legen? Reicht die Sportgerichtsbarkeit? Dagegen sprechen die Interessen aller Beteiligten. Sportler wollen siegen, ihre körperlichen Leistungsgrenzen nach oben verschieben. Zuschauer wollen Sieger und Idole, genau wie Medien und Politiker. Über Jahrzehnte war es beinahe völlig egal, mit welchen Mitteln diese Siege erreicht wurden. Das stillschweigende Abkommen zwischen Sportlern und Öffentlichkeit hieß: „Wir gewinnen für euch, Punkt. Wie wir das machen, ist unsere Sache - Punkt“. Der Erfolg gab diesem Vertrag recht – und auch der Misserfolg. Besonders Funktionäre und Trainer sind in den letzten Jahrzehnten wohl hundertmal eher entlassen worden wegen Erfolglosigkeit als wegen ruchbar gewordener Dopingpraktiken. Man darf nie vergessen: Doping nützt allen Beteiligen, solange es unentdeckt bleibt.

Genau darum wurden und werden noch immer viel mehr Kräfte und Mittel investiert, um „todsichere“ Manipulationsmethoden zu entwickeln; wie verschwindend wenige, um sie aufzudecken oder gar zu verhindern.

 



Härtere Strafen, weniger Doping?

Wer also dann kann den nächsten großen Dopingskandal verhindern? Strengere Gesetze, die den Sportler haftbar machen für seinen Betrug? Der Druck auf die Athleten ist schon heute kaum steigerbar. Wer sich für ein Leben als Sportprofi entscheidet, muss mit der bürgerlichen Gesellschaft brechen, muss aussteigen aus den vorgezeichneten Lebenswegen der „Normalbürger“. Er entscheidet sich für eine Risikoexistenz – niemand kann ihm sportliche Erfolge und damit materielles Auskommen garantieren. Die Jahre, in denen Altersgenossen die Grundsteine für eine bürgerliche berufliche Karriere legen, verbringen Profisportler mit Training, Wettkampf, unstetem Leben in Hotels. Ihre einzige Orientierung im Leben sind Trainingspläne, Leistungsdiagramme, Ernährungstabellen und Formkurven. Wer diese Maßstäbe und Kriterien nicht akzeptiert, dem fehlt die „professionelle Einstellung“. Wer nach diesen Maßstäben nicht erfolgreich sein kann, wird aussortiert. Das ist nicht zynisch, so funktioniert Sport- und Talentförderung.

Wer diesem Druck sein Leben unterordnet, dem bei Erfolg noch die Erwartungshaltung von Fans und Medien obenaufgepackt wird, den treibt man mit der Androhung von Gefängnisstrafen nur noch weiter in die Enge. Dann steht, wer Olympiasieger oder Tourgewinner werden will, tatsächlich „mit einem Bein im Knast“. Der Kriminalisierung der Betreuer-, Vermittler- und Soigneurszene würde weiter Vorschub geleistet.

 



Injektionsnadeln im Heuhaufen

Wer kann dann noch helfen? Die Anti-Doping-Agenturen? Wer die finanzielle und personelle Ausstattung dieser Behörden kennt, der kennt auch ihre Erfolgschancen. Eine positive Dopingprobe im Wettkampf gleicht einem Sechser im Lotto, das wissen Athleten wie Dopingfahnder. Eine positive Kontrolle im Training ist weit weniger abhängig von dem, womit ein Sportler sein Training „optimiert“ als von professionellem Timing und Organisation der Trainingsprobe. Die Chancen, erwischt zu werden, sind so erschreckend gering, dass sie als Einladung verstanden werden können – das wissen alle Beteiligten. Dieses Wissen zu „versilbern“, ist nur ein kleiner Schritt.



Wer will Veränderung?

Gibt es überhaupt eine Hoffnung, dass sich etwas ändern wird? Nun, niemandem ist es zu verdenken, wenn er diese Frage verneint. Sportler und Funktionäre sprechen weiterhin von Einzelfällen, von schlechten Charakteren, schwarzen Schafen. Sie sehen ihr System als im Grunde richtig und gut funktionierend an. Sie sind in ihm groß geworden. Es gibt ihnen Sicherheit, wenn sie sich an die internen Regeln halten. Warum sollten sie etwas ändern wollen?

Fans und Medien sind die Zusammenhänge im Allgemeinen viel zu komplex. Sie wollen Sieger, wenn sie als „sauber“ gelten, umso besser. Es ist nicht anders als bei Gammelfleisch- oder Weinpansch-Skandalen: Ganz genau will es eigentlich niemand wissen, Hauptsache, es befriedigt die Bedürfnisse nach Geschmack und Billigkeit. Details und Wahrscheinlichkeiten interessieren nur hinterher – auch im Sport, wenn tatsächlich einer der Helden strauchelt.

Politiker wiederum wollen ihren Namen mit Erfolgen, nicht mit Skandalen in Verbindung gebracht sehen – wenn schon, dann mit solchen, in denen einfache und öffentlichkeitswirksame Aktionen Souveränität und eine Lösung vorspiegeln. Sport ist dafür viel zu nebensächlich, Radsport erst recht.

 



Notoperation mit ungewissem Ausgang

Alles, was bleibt von der „Operación Puerto“ ist ein allgemeines Unwohlsein beim Betrachten sportlicher Darbietungen. Dieses Unwohlsein hat den Nachteil, dass es den Spaß verderben kann. Aber auch den Vorteil, dass es sich sehr leicht ausblenden lässt. Vielleicht ist es ein Anfang, dass sich bei nicht Wenigen der Blick auf ihre Helden, auf ihre Lieblingswettkämpfe, auf ihre eigene Begeisterung verändert hat. Hinter diese Erkenntnis führt kein Weg zurück, die Erde ist keine Scheibe mehr und wird es nie wieder werden.

Für den Profiradsport scheint es so zu sein, als wollten nun einige „zwar nicht alles besser, aber einiges anders machen.“ Es wäre mehr als man erwarten möchte, wenn diese Aktionen in einigen Jahren als Anfang eines Umdenkens gesehen werden würden. Dass sie den Profiradsport zu säubern vermögen, ist Illusion und Wunschdenken. Wenn überhaupt, werden vielleicht die Kinder und Jugendlichen, die heute ihr erstes Radrennen um die Häuserecke bestreiten, in zehn oder fünfzehn Jahren diesen Sport mit einem anderen Bewusstsein ausüben. Vielleicht. Wenn überhaupt.

 

Schwacher Trost aller Erkenntnis ist, dass fast alles auch anders kommen kann. Die Erde ist eine Kugel, aber die Befürchtung, dass Teile der Menschheit kopfunter leben müssen, hat sich als unbegründet erwiesen. Wir werden sehen.

 


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