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Steamboats Sticheleien



Mailand - San Remo

(c) by steamboat, März 2006

 

Der diesjährige Klassiker Mailand - San Remo wirft seine Schatten voraus. Vieles spricht für eine Konfrontation des Vorjahressiegers und vermeintlich derzeit bestem Sprinters der Welt Alessandro Petacchi (Milram) und dem Weltmeister Tom Boonen (Quick Step), die damit den Sieg untereinander ausmachen werden. Die vermutete Auseinandersetzung der beiden lässt andere Kontrahenten, die sich natürlich auch für dieses Rennen besonders präparieren, fast verblassen.



Petacchi gegen Boonen

Im Vorfeld zu Mailand - San Remo haben beide ihre Kräfte einmal miteinander verglichen. Bei der Andalusien-Rundfahrt schien Petacchi nach zwei direkten Erfolgen über den Belgier unschlagbar, bis dieser auf der Abschlussetappe den Spieß umdrehte und dem Italiener das Nachsehen gab. Inwiefern natürlich von den Erfolgen in Spanien auf ein mögliches Renngeschehen und -resultat für den Klassiker abgeleitet werden kann, ist etwas fragwürdig. Die Etappen in Spanien waren deutlich kürzer und vermutlich auch nicht so anspruchsvoll. Besonders die kolossale Länge (fast 300 km) fordert vermutlich ihren besonderen Tribut von allen Teilnehmern. So musste sich Boonen, der auch 2005 bereits zum engen Favoritenkreis zählte, mit dem achten Rang begnügen, da er im Finale nichts mehr hinzuzusetzen hatte. Kritiker vertraten hernach die Ansicht, dass Boonen die Überlänge der Strecke etwas unterschätzt hatte. Dafür spricht, dass einige Kollegen schneller waren, die ansonsten gegen den späteren Weltmeister die gesamte Saison keinen Stich sahen.



Gewinnt er in San Remo?
(c) by peloton-pictures.com

Kaum ein anderer Sprinter findet die Gnade der Erwähnung, wenn über den Sieg bei dem ersten Eintagesrennen der Pro Tour philosophiert wird. Wie fahrlässig es sein kann, die anderen Mitstreiter von der Rechnung zu streichen oder zumindest zu vernachlässigen, wissen die beiden Superstars aus eigener Erfahrung und werden schon deshalb auf der Hut sein, die Gegner auf die leichte Schulter zu nehmen. 2004 z.B. konnte Petacchi in San Remo den mustergültig aufgebauten Zug seines Teams Fassa Bortolo nicht erfolgreich abschließen, da Freire, Zabel und O´Grady noch am auch damals schnellsten Fahrer vorbeizogen.



Oder doch er?
(c) by velo-photos.com

Aber auch Boonen blieben überraschende Niederlagen nicht erspart. 2003 unterlag er Andreas Klier im Sprint bei Gent - Wevelgem, der an die Spurtstärke des Belgiers eigentlich nicht heranreicht. Von daher ist nicht davon auszugehen, dass sie ihre Gegner aus dem Blick lassen oder unterschätzen werden. So gelten natürlich Thor Hushovd (Crédit Agricole), Bernhard Eisel (Francaise des Jeux), Oscar Freire (Rabobank ) oder Daniele Bennati (Lampre) als Mitfavoriten, evtl. kann Alan Davis (Liberty Seguros) noch ein Wort mitsprechen. Robbie McEwen, der sowohl Petacchi als auch Boonen bei Etappenankünften immer wieder ärgern kann, hat in der Vergangenheit stets bewiesen, bei Klassikern keine Gefahr zu sein, von daher kann man ihn vernachlässigen. Nicht wenige Beobachter der Szene haben allerdings den vierfachen Sieger der Classicisima, Erik Zabel, auf der Rechnung, falls das Rennen für seinen Teamkollegen Petacchi nicht nach Wunsch verlaufen sollte.



Nicht wenige vermuten, dass sich die beiden Milram-Fahrer ohnehin in die Quere kommen könnten, da beide dieses Rennen lieben und eigentlich keinen Grund haben, auf diesen wertvollen Sieg zu verzichten, wenn die Form für einen Sieg stimmen sollte. Meines Erachtens wäre aber ein solches Szenario undenkbar und etwaige Ideen wirken unterphilosophiert.

 

Aber die Konstellation Petacchi gegen Boonen hat ja noch einige interessante Facetten. Zwar konnte Petacchi einige Mitglieder seines ominösen Zuges von Fassa Bortolo lotsen (Ongarato, Sacchi, Velo). Aber ein langjähriger Gefährte und wesentlicher Bestandteil des Expresses, Matteo Tosatto, trennte sich von Petacchi und heuerte bei Quick Step an. Dieser Wechsel erhöht höchstens die Brisanz der Auseinandersetzung der zwei Protagonisten, im Endeffekt lässt sich die Einflussmöglichkeit von Tosatto auf die sportliche Auseinadersetzung als minimal bezeichnen. Wenn er nicht gerade über das Rezept verfügt, den Zug von Petacchi in der entscheidenden Phase zu sprengen oder lahm zu legen, wird sein Rollentausch sich kaum auswirken. Es muss auch sehr bezweifelt werden, dass er seinem neuen Arbeitgeber grundlegende Neuigkeiten über die Stärken und Schwächen Petacchis mitteilen kann. Von daher dürfte in dem Showdown Tosatto lediglich nur ein kleines nicht zu überbewertendes Mosaiksteinchen darstellen.



Wer ist der schnellste?
(c) by peloton-pictures.com


Oder doch kein Sprinter?

Die größte Gefahr für die beiden Sprinter aber übersehen offensichtlich viele Fans und evtl. auch einige Fahrer.

 

Wer behauptet denn, dass Mailand - San Remo durch einen Massensprint entschieden wird? Die Vorzeichen diesbezüglich sind gar nicht als allzu positiv zu werten.

 

Um diese Einschätzung zu erläutern, werfe man einen Blick auf die Ergebnisliste 2005. Dort taucht an zweiter Position Danilo Hondo auf, der im Verlaufe der vergangenen Saison des Dopings überführt wurde. Sein damaliges Team Gerolsteiner konnte die Position des Sprinters bisher nicht adäquat besetzen. Deswegen stellt sich schon die Frage, inwiefern das Team aus der Eifel Interesse an einer Sprintankunft haben sollte, bei der es eher schlechte Karten haben sollte. Weder Haselbacher noch Förster haben in der Vergangenheit gezeigt, dass sie für diese Art von Rennen Podiumskandidaten sein werden.



Auch T-Mobile, bei denen bisher stets Erik Zabel in der Kapitänsrolle bei Mailand - San Remo antrat, verfügt nicht über den entsprechenden Siegfahrer bei einem Sprint Royal. Zwar konnte Olaf Pollack während der Tour of California zwei Massenankünfte gewinnen, zur ersten Garde der Sprinter zählt er dennoch nicht. Von daher dürfte bei dem Team die Überlegung anstehen, Fluchtgruppen entsprechend zu bestücken, so dass das Rennen nicht durch einen Endspurt des Hauptfeldes entschieden wird.

 

Radsport ist die Sportart der Koalitionen und Interessensgemeinschaften. Die beiden deutschen Teams stehen mit ihrem Anliegen, bei Mailand - San Remo ihr Heil in Fluchtgruppen zu suchen, nicht alleine dar. Es steht zu erwarten, dass weitere Teams, die über keine exzellenten Sprinter im Team verfügen, aber dennoch gute Finisseure in ihren Reihen haben, ein höheres Interesse an der Bildung von Ausreißergruppen anmelden.



Im Vergleich zum Vorjahr ist die Anzahl der Rennställe, die die Entscheidung nicht im Massensprint suchen wollen, vermutlich gestiegen. Um diese Einschätzung zu erklären, nehme man erneut die Ergebnisliste des Vorjahres vor. Denn aus dem Kreis der Top Ten werden voraussichtlich wieder die Akteure zu suchen sein, die bei dem Frühjahrsklassiker die besten Karten im Finish haben. Allerdings sollte man genau besehen, für welche Teams diese jetzt fahren und ob diese Mannschaften ihre Taktik alleine auf sie ausrichten werden.

 

Vierter bei der letztjährigen Austragung wurde Stuart O´Grady, der seinerzeit in den Diensten des französischen Teams Cofidis stand. Dort war er für dieses Rennen der uneingeschränkte Chef, die Teamtaktik wurde auf ihn ausgerichtet. Nun trägt er die Farben von CSC und hat sich bei Tirreno-Adriatico schwer verletzt, so dass er nicht bei Mailand-San Remo teilnehmen kann. Deswegen zählt sein Team CSC eher zu denen, die Interesse an einer vorzeitigen Entscheidung gegen das Hauptfeld haben.

 

2004 siegte Oscar Freire mit einem Katzensprung bei der Classicisima. 2005 belegte er den fünften Rang und laborierte weite Teile der Saison an Verletzungen herum. Dieses Jahr konnte er gegen die Sprinterkonkurrenz nicht die entsprechenden Akzente setzen und hatte das Nachsehen. Alleine schon deshalb müssen die Gewinnaussichten des Spaniers argwöhnisch beurteilt werden. Zudem konnte er im bisherigen Verlauf der noch jungen Saison nicht nachweisen, dass er wieder der alte ist. Das schmälert seine Erfolgsaussichten erheblich. Damit steigt die Wahrscheinlichkeit, dass die Teamtaktik von Rabobank eine mehrgleisige Ausrichtung erfährt. Eine Variante bestände in dem finalen Schlussspurt, bei dem sich alle den Interessen von Freire unterordnen müssten. Derzeit scheint es aber plausibler, dass auch Rabobank erpichter sein wird, in Fluchtgruppen vertreten zu sein, als im Finish das Nachsehen zu haben.



Duell der Teams?

Der Vorjahressechste Philippe Gilbert (Francaise des Jeux) und –siebte Ruggiero Marzoli (Lampre) gehören Mannschaften an, die sich ihrerseits auf andere Kapitäne ausrichten und ohnehin für das zustande kommen eines Sprints sorgen wollen. Damit wird der Kreis der Teams, die für einen Sprint arbeiten wollen, stark eingegrenzt: Milram, Quick Step, Lampre, Francaise des Jeux und Crédit Agricole. Inwiefern die beiden zuletzt genannten Teams aber wirkungsvoll bei einer Taktik helfen können, die für ein geschlossenes Feld auf der Zielgerade sorgen können, bleibt dahin gestellt. Vermutlich werden sie versuchen, sich in der entscheidenden Phase etwas im Hintergrund zu halten.

Damit steht zu erwarten, dass die drei zuerst genannten Teams die Hauptlast der Arbeit tragen, um das Feld geschlossen auf die Zielgerade zu führen.

 

Ihnen gegenüber steht eine Armada an Equipen, die genau diese Strategie verhindern möchten. Wie bereits aufgeführt, befinden sich hierunter T-Mobile, Gerolsteiner, CSC und Rabobank. Aber auch Liquigas (mit Paolini), Discovery Channel, Lotto-Davitamon, Phonak oder auch Caisse d´Epargne werden mit der Möglichkeit liebäugeln, das Rennen vorher gegen die Sprinter zu entscheiden. Ob Milram, Quick Step oder Lampre dann ihrerseits ambitionierten Fahrern (wie Paolo Bettini oder Mirko Celestino) gestatten werden, sich den Ausreißergruppen anzuschließen, hängt von der Rennsituation ab. Mirko Celestino dürfte von seiner sportlichen Leitung nur widerwillig die Erlaubnis bekommen. Sie dürfte erst erfolgen, wenn sich schon frühzeitig im Rennverlauf zeigt, dass weder Petacchi noch Zabel sich in der Lage sehen, Mailand - San Remo zu gewinnen.



Wird er alleine ankommen oder doch fürs Team fahren?
(c) by velo-photos.com

Für Quick Step hätte ein alternativer Verlauf zum Massensprint auch seine interessante Seite. Schließlich befindet sich der Olympiasieger Paolo Bettini auf der Gehaltsliste. „Die Grille“ ist nämlich ein weiterer guter Trumpf im Poker gegen Milram. Bettini, der auf nahezu allen Klassikerstrecken sich zu Hause wähnt, hat 2003 unter Beweis gestellt, dass bei der classicisima auch eine Gruppe durchkommen kann. Allerdings muss man abwarten, ob er bis zum Rennen seine Verletzungen aus dem Sturz bei Tirreno-Adriatico überwunden hat.

 

Bettini wird überdies ein sehr wichtiger Faktor in diesem Rennen sein. Schließlich hat er noch eine Rechnung mit Petacchi & Co offen. Eigene Ziele stellte er bei der WM 2005 hinten an, da sich das italienische Team entschlossen hatte, Petacchi zu unterstützen. Jener aber war an diesem Tage nicht im Vollbesitz seiner Kräfte und scheiterte, obwohl als Topfavorit gewettet. Besonders Bettini erregte sich darüber, dass er viel zu spät grünes Licht bekam, um auf eigene Faust fahren zu können. Stattdessen gratulierte her im Ziel seinem Mannschaftskollegen Tom Boonen zum Gewinn der WM.

 

Bettini gilt als freundlicher Fahrer, aber in ihm lodert auch ein Feuer. Nur zu gerne würde er sich für die eingebüssten Möglichkeiten bei denen revanchieren, die ihn zu einer solchen Fahrweise wie bei der WM veranlassten. Und diese fahren derzeit im Trikot von Milram. Die Teamleitung von Quick Step würde den Gewinner von Mailand - San Remo gerne in seinen Reihen haben. Ob dieser dann Tom oder Paolo heißt, ist diesbezüglich von zweitrangiger Bedeutung.



Vieles wird bei diesem Rennen sicherlich davon abhängen, wie gut sich die Teams untereinander verständigen können und inwiefern sie ihre Interessen kombinieren. Gelingt es den Sprinterteams, aufgrund ihrer gemeinsamen Interessenlage effizient zu koalieren, oder behalten die zahlreicheren anderen Teams die Oberhand, die eine Massenankunft verhindern wollen? Ihn droht in den Situationen Ungemach, wenn nur wenige Fahrer der aufgeführten Teams kleinere Gruppe bilden; denn dann würden sich mehr Equipen an Verfolgungen beteiligen, die derartige Verstöße zum Scheitern verurteilen würden.

 

Deshalb sollten zwischen sechs bis acht Teams in einer Fluchtgruppe vertreten sein, damit auch die Aussicht auf Erfolg seine Berechtigung fände. Denn dann würden nur die Sprinterteams sich mit dem Einfangen der Ausreißer beschäftigen und das könnte für eine starke Ausreißergruppe ausreichen, um erfolgreich die Classicisima zu gestalten …


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