Horst Pagel lacht: „Guter Spruch.“ Über den Rest der Geschichte hat sich der Physiologe der Universität zu Lübeck sein Bild gemacht und eine vernichtende Kritik geschrieben. Nahrungsergänzungsmittel (NEM), „halten nicht, was sie versprechen, sind teuer und unberechenbar“. Nicht in jedem Detail folgen andere Experten diesem Urteil. Hans Braun vom Fachbereich Ernährung des Instituts für Biochemie an der Sporthochschule Köln sieht bei Kreatin-Einnahme je nach Individuum durchaus die Möglichkeit eines Wirkungspotentials. „Für sechs Sekunden“, sagt Pagel und lächelt.
Denn in der Kernaussage sind sich die Wissenschaftler einig. Wer gesund und nicht schwanger oder Alkoholiker ist, hat die Einnahme von Nahrungsergänzungsmitteln in Westeuropa nicht nötig. Schließlich dürfen NEM laut des deutschen Lebensmittel- und Futtergesetzbuches nichts anderes sein als Lebensmittel. Eine ausgewogene Kost aber bietet schon alles, was der Körper braucht. Auch der eines Spitzensportlers. Allenfalls bei intensiven Ausdauerbelastungen über eine Stunde hinaus erscheint ein Ausgleich - etwa während eines Marathon-Rennens - unter Umständen sinnvoll. „Wir folgen dieser These, falls kein ärztlich festgestellter Mangel herrscht“, sagt Braun.
Drei Viertel der Kinder konsumieren NEM
Nur durchgesetzt hat sie sich nicht. Aus einer Studie der Kölner geht hervor, dass bis zu 80 Prozent befragter Nachwuchssportler (von 14 Jahren an) schon einmal ein Nahrungsergänzungsmittel konsumiert haben, manche bis zu 17 Produkte in den letzten vier Wochen vor der Befragung (2006/2007). Selbst drei viertel der Kinder (Zehn- bis Vierzehnjährige), konsumierten mindestens ein NEM.
Dass die versprochene Wirkung kaum belegt ist, mag man hinnehmen. Hinweise auf mögliche Nebeneffekte aber alarmieren. Während man sich mit Nahrungsmitteln vom Wochenmarkt kaum eine Überdosis Eisen zuführen kann, ist das mit Hilfe konzentrierter Präparate möglich. Langfristiger Einsatz von Mineral- und Spurenelementen begünstigt Knochenbrüchigkeit, steigert das Herzinfarktrisiko oder die Bildung von Nierensteinen. Selbst Vitamin C, als Lebenselixier gepriesen, soll bei extremer Dosierung krebserzeugend wirken können.
Finnische Studien behaupten nun, überflüssige Gesundheitspillen verkürzten gar das Leben. Das, sagen Kritiker, sei nicht bewiesen. Weil aber niemand seriös beantworten kann, was eine NEM-Mischung über die Jahre anrichtet, warnt Braun: „Die Unwissenheit, ob und welche Nebenwirkungen auftreten, birgt ein hohes Risiko. Wir haben den Eindruck, dass manchen Konsumenten nicht klar ist, was sie tun.“ Und wem es nutzt. Pagel bietet eine Antwort: „Nahrungsergänzungsmittel nutzen allein dem Hersteller.“
Die Ablehnung ist keine neue Haltung. Seit Jahren raten Sportverbände, die Finger von NEM zu lassen: Der Deutsche Olympische Sportbund (DOSB) hat sich so positioniert wie die Nationale Anti-Doping-Agentur und die Deutsche Sportjugend im Namen des Heidelberger Zentrums für Doping-Prävention. Auch das Bundesinnenministerium fügt sich in den Kreis der Mahner. Umso erstaunlicher sind die Ergebnisse einer von Braun und Kollegen initiierten Umfrage bei deutschen Olympiakadern 2008. Sie kommt zu dem Ergebnis, dass 88 Prozent im Monat vor der Befragung mindestens ein NEM probiert haben, manche bis zu 19 Produkte.
Warum sollten Trainer an der Basis skeptisch werden?
Offensichtlich kommt unten nicht an, was oben gepredigt wird. Weder im Leistungssport noch im Breitensport. So berichtete das Sportmedizinische Institut der Bundeswehr und der Fachbereich Ökotrophologie der FH Münster jüngst von einer „weit verbreiteten“ Supplementierung unter „Jedermännern“. 40,9 Prozent von rund 570 befragten Sportkameraden gaben an, im Schnitt 2,5 NEM zu schlucken. Und zwar weitgehend „unreflektiert“. Jedenfalls bezogen nur 3,9 Prozent die Mittel von einem Arzt. „Für die untersuchte Zielgruppe“, schrieben die Autoren, bestehe „dringender Aufklärungsbedarf.“ Denn sie gilt als die Keimzelle der Sportbewegung: die Wissenschaftler befragten Übungsleiter.
Warum aber sollten Trainer an der Basis skeptisch sein, wenn Vorbilder des Sports für NEM werben? Die Bandbreite reicht von der Olympiasiegerin im Bobfahren, Sandra Kiriasis, bis zur Bandenwerbung im Stadion des FC Schalke 04. Für ein Mittel aus dem Sortiment des früheren Eishockeyprofis Truntschka macht sich Nationaltorwart Dennis Endras stark: „Meine Reaktion im Tor ist optimal. Auch die Regeneration nach harten Trainingseinheiten ist besser geworden.“
Seit Jahrzehnten werden NEM im deutschen Sport verteilt. 1986, berichtet der Heidelberger Präventionsexperte Gerhard Treutlein, erhielt eine vorwiegend mit Magerquark auf superschlank getrimmte Athletin der Rhythmischen Sportgymnastik 30 verschiedene Substanzen - für eine Woche. Bei der Wahl zum Sportler des Jahres in Deutschland 2000, eine Veranstaltung von Journalisten, drückte man den Gästen eine Dose Kreatin in die Hand (...). Auch so ist die unüberlegte Schluck-Mentalität gefördert worden. „Leider Gottes“, heißt es in der Verbraucherzentrale von Nordrhein-Westfalen: „Wir wissen von einem Fall, in dem ein Trainer F-Jugendlichen im Fußball (also Achtjährigen) Magnesium-Tabletten gegeben hat.“
In einem Wintersportverband übernimmt eine Medaillengewinnerin von Vancouver jeweils die Sammelbestellung für alle Kader. Selbst auf den Web-Sites von sechs der neunzehn Olympiastützpunkten tauchen Hersteller als „Partner“ oder Werber auf. Die Darstellung ist eingängig, verführerisch, mitunter aggressiv. Zwei Doppelklicks reichen, um vom Logo des Unternehmens Multipower auf der Web-Site des Olympiastützpunktes Rhein-Ruhr zu einer Muskelprotz-Vorstellung der Bodybuilder-Szene zu kommen. Ein naturbelassenes Modell, selbstverständlich.
„Warum soll ich aber Petersilie trinken?“
Fast in jeder NEM-Werbung wird eine schnellere Regeneration bis zum nächsten Training und damit letztlich eine unverhohlene Botschaft ausgesprochen: „Ich habe von unseren Sportlerinnen und Sportlern mehrfach gehört“, wird der Präsident des Deutschen Volleyball-Verbandes, Werner von Moltke, zitiert, „welch positiven Einfluss das Getränk auf ihre Leistungen hat.“ Viele Spitzensportler, schreibt der Vertreiber dieses Produktes, trinken es täglich. Der Physiologe Pagel hat auf den Inhalt geschaut: „Der übliche Blödsinn“, sagt er, „für 2,20 Euro die Tagesdosis. In diesem Produkt stecken in erster Linie Extrakte verschiedenster Pflanzen. Warum soll ich aber Petersilie trinken? Kann man sich doch gehackt über das Essen streuen.“
Eine Ärztin aus Bayern lässt das Gemüse zwar nicht links liegen. In einem Raum des Olympiastützpunktes Bayern berichtete die Medizinerin den Eltern von Nachwuchssportlern aber, ihre eigenen Sprösslinge seien im Leistungssport nicht ohne NEM über die Runden gekommen. Anschließend wurden der Medizinerin Bestellzettel fast aus der Hand gerissen - für Produkte, die der Olympiastützpunkt bewirbt. Darin ist auch Carnitin enthalten, was angeblich zur Fettverbrennung taugt. Dabei eignet es sich besser, dicke Fische an Land zu ziehen. Früher brauchte man es zur Freude der Angler für die Zucht von Mehlwürmern.
In München versteht man weder die Sorgen von Eltern noch die Botschaft des Deutschen Olympischen Sportbundes. „Der Olympiastützpunkt Bayern“, schrieb Leiter Klaus Pohlen auf Anfrage, „steht hinter den Produkten, die er bewirbt, weil wir den Einsatz im Hochleistungssport für sinnvoll erachten.“ Pohlen könnte sich auch auf die Großen des Sports beziehen. Auf die Stiftung Deutsche Sporthilfe, die 2008 eine Spende in Höhe von 40.000 Euro des Vertreibers von Cellagon-Produkten erhalten hat. Oder sogar auf den DOSB.
Denn dieser Mahner aus Frankfurt hat selbst keine Distanz gehalten. Er wirbt mit dem Hersteller „Juice-plus“. Ein „alter Vertrag“, wie man in der Zentrale beteuert. Jetzt gelten neue Maßstäbe: „DOSB und BMI“, schrieb das Ministerium dieser Zeitung, „werben dafür, auf Nahrungsergänzungsmittel zu verzichten.“ Schließlich weiß man in Frankfurt und Berlin, dass der Einsatz selbst erlaubter Mittelchen nicht nur zu einer psychischen Abhängigkeit führen kann, falls ein Sportler nach dem Konsum eines erlaubten NEM im Wettkampf Erfolg hat.
Die teils wie Arzneimittel aussehenden NEM könnten nach langem Einsatz auch die wichtige Hemmschwelle eines jungen Sportlers senken. Wenn der Reiz gärt, Nahrungsergänzungsmittel durch Arzneien zu ersetzen, die wirken: „Abgesehen von der Fraglichkeit der Wirkung (. . .)“, schreiben BMI und DOSB unisono, „sehen wir eine potentielle Begünstigung der Dopingmentalität.“