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Geschichte Deutscher Radsport



Sechstagerennen in der NS-Zeit



Wurden im Jahre 1934 Sechstagerennen von den Nationalsozialisten verboten?

Text und Bilder von Renate Franz (unter Mitarbeit von Jan Eric Schwarzer), hier veröffentlicht im Februar 2011

 



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Gustav Kilian und Heinz Vopel im Madison Square Garden in New York im Dezember 1937. Die amerikanische Presse hatte die Flagge aus dem Foto entfernt.
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Wenn man Veröffentlichungen über die Geschichte des Radsport liest, begegnet einem immer wieder der Satz: 1934 wurden Sechstagerennen von den Nationalsozialisten verboten. Diese Aussage fand ich jedoch nur ohne Angabe einer Quelle, als feststehendes Faktum, meist zur Erläuterung, warum die erfolgreichen Sechstage-Fahrer Gustav Kilian und Heinz Vopel bis in die 1940er Jahre hinein Rennen in den USA fahren mussten (1). Die Nazis hätten Sechstagerennen verboten mit der Begründung, sie seien „amerikanisch-jüdisch“, ein „unwürdiges Spektakel“, gesundheitsschädlich, dekadent und sensationslüstern.

 

Es ist in der Tat zutreffend, dass es im Jahr 1934 in Deutschland, nach 25 Jahren Tradition, nur noch zwei Sechstagerennen, in Dortmund und Berlin, gab, und danach keins mehr bis 1949. (memoire du cyclisme: Sechstagerennen)

 

Doch wurden die Sechstagerennen tatsächlich verboten? Gab es ein Gesetz, eine Verordnung? Oder wie kam diese Behauptung von Journalisten und Historikern zustande?



die ersten Sechstagerennen

Die Idee für ein Sechstage-Rennen stammte ursprünglich aus England, wo 1875 das erste in Birmingham von Einzelfahrern auf Hochrädern ausgetragen worden war (2). Wegen der Sonntagsruhe waren die Rennen auf sechs Tage beschränkt. 1879 wurde das Sechstage-Rennen in die USA exportiert und fand dort als Ein-Mann-Rennen rund um die Uhr statt. Als Zweier-Mannschaftsfahren wurden Sechstagerennen ab 1899 im New Yorker Madison Square Garden ausgetragen, weshalb es auch die international gebräuchliche Bezeichnung „Madison“ erhielt. „Bedingung war, dass einer der beiden Fahrer im Rennen war, das ohne Pause über 142 Stunden lief.“(3) Gezählt wurden die tatsächlich gefahrenen Kilometer.





Walter Rütt: Das Sechstagerennen 1907

1909 fand das erste Sechstagerennen auf europäischem Boden in Berlin statt. Obwohl in vielen anderen europäischen Städten im Laufe der folgenden Jahre Sechstagerennen veranstaltet wurden, war das Berliner Sechstagerennen – damals wie heute – in besonderer Weise mit der Stadt verbunden – wie das Brandenburger Tor oder der Berliner Bär.

 



Doch von Beginn an wurde das Sechstagerennen, die ausschließlich von Profis bestritten wurden, in Deutschland auch immer sehr kritisch gesehen. Selbst der Radsport-Journalist Fredy Budzinski, der in späteren Jahren ein leidenschaftlicher Anhänger der Sixdays wurde, äußerte sich noch 1907 abfällig: „[...] Sechstagerennen, so bewunderungswürdig die Energie der Fahrer auch ist, [können]] nicht als ein sportliches Schauspiel angesehen werden.“ (4) Und sein Kollege Adolph Schulze ergänzte: „Man hielt das Unternehmen allgemein für einen grossen amerikanischen Humbug ohne jeden sportlichen Wert, für eine Menschenschinderei, lediglich darauf berechnet, rücksichtslosen Unternehmern die Taschen zu füllen.“ (5)

 

In der Folge wurde Budzinski allerdings ein begeisterter Fan: „[...] ein Sechstagerennen löst eine ganze Reihe männlicher Tugenden aus, [...] Mut, Entschlossenheit, Energie und Tatkraft [...].“ (6) Als sich zudem die Sechstagerennen auf die Dauer als langweilig erwiesen, war er es, der die Sprints mit Punktewertung einführte, was bis heute als „Berliner Wertung“ bekannt ist.



erste Sechstagerennen
in
Berlin
der Kronprinz mit Thaddäus Robl


Aufschwung in den 20er Jahren

Besonderen Aufschwung erlebten die Sechstagerennen in Deutschland ab der Währungsreform im Jahre 1923 in den sogenannten „Goldenen Zwanzigern“, für deren Lebensfreude die Sechstagerennen mit Radrennen, Musik und Unterhaltung wie geschaffen schienen. Heimstatt des Berliner Sechstagerennens war der „Sportpalast“, seine Hymne der „Sportpalast-Walzer“ und sein Maskottchen Reinhard Habich, genannt „Krücke“, ein Versehrter aus dem Ersten Weltkrieg, der den Pfiff zur Musik erfand und für Stimmung auf dem „Heuboden“ sorgte. Doch es gab auch sportliche Höhepunkte wie den „Streckenrekord“ von 4544,2 Kilometer von Franz Krupkat und Richard Huschke im Jahre 1924.



Ablehnung versus Begeisterung

Wie stark die politischen Gegensätze in der Weimarer Republik waren, wo es ja zu blutigen Auseinandersetzungen zwischen rechten und linken Kräften kam, so stark gingen auch die Ansichten über das Sechstagerennen auseinander, wobei die Fronten hier anders verliefen. Sowohl extrem linke wie extrem rechte Kräfte lehnten Berufssport und also auch Sechstagerennen als „Zirkus“ oder „Artistik“ ab, außer dem Kommunisten Bertolt Brecht, der rundweg bekannte: „Ich bin für den Sport, weil und solange er riskant (ungesund), unkultiviert (also nicht gesellschaftsfähig) und Selbstzweck ist.“ (7)

 

Immer wieder kam es bei den Rennen zu Schiebungen und Bestechungen, was sowohl von sozialistischer wie auch konservativer Seite beklagt wurde. Der Journalist Rolf Nürnberg wollte diesen Vorgängen allerdings nicht zuviel Bedeutung beimessen: „Sie wissen beinahe instinktiv, diese Sechstagematadore, dass das Publikum sich mitunter gern betrügen läßt […]. Die Leistungen aber bleiben bestehen […].“ (8)

 

Die Kritik erfolgte trotz oder wegen des massenhaften Zulaufs, den besonders das Sechstage-Spektakel im Berliner Sportpalast hatte. „Die einhellige Meinung […] bestand darin, dass die zu fördernden eigentlichen Qualitäten der universellen Idee des Sports ausschließlich im Amateurismus, nicht jedoch im kapitalistischen Berufssport zu finden seien. Es bestände durch das bezahlte Artistentum die Gefahr, dass sich die Deutschen über den im Sport propagierten ‚Rekordfimmel’ immer weiter von ihrer Kultur entfremden würden.“ (9)



Der Journalist Egon Erwin Kisch ereiferte sich: „Ein todernstes, mörderisches Ringelspiel, und wenn es zu Ende, die hundertvierundvierzigste Stunde abgeläutet ist, dann hat der erste, der, dem Delirium tremens nahe, lallend vom Rade sinkt, ein Beispiel der Ertüchtigung gegeben.“ (10) Sein Kollege Willy Meisl beschrieb den nächtlichen Hochbetrieb: „Es war ein richtiges Volksvarieté, und der Thronfolger saß nur einen Rang niedriger als der Apache. Die Künstlerloge war meist überfüllt. Viel Publikum kam wegen des merkwürdigen Publikums […].“ (11)

 

Ein weiterer Berufskollege, Curt Riess, schilderte seine eigene Faszination: „Was mich erregte, war die Erregung, die der Sport, nicht an sich, sondern als Ereignis, der Sport, in Leben umgesetzt, auslöste. Die Erregung, die den Menschen verwandelte. Die Zuschauer in der Halle bis hinaus zur letzten Reihe der Galerie, wo schon alles im Nebel und Rauch verschwand, die eleganten Damen und Herren, Champagner trinkend in ihren von der Bahn umsäumten Logen, vor allem aber die Fahrer. Ihre Gesichter waren Masken der Erregung, der Verbissenheit, der Erschöpfung, des Schmerzes – denn immer wieder stürzten sie, wurden fortgetragen und rasten doch einige Minuten später mit verbundenen Knien und Armen um die Bahn. Dies war es, was mich nicht mehr losließ. “ (12)

 

Diese Begeisterung teilte Riess mit bekannten Schriftstellern wie Ernest Hemingway, Bertolt Brecht, Alfred Polgar, Ödön von Horvath und Erich Kästner, und auch bildenden Künstlern wie etwa Edward Hopper. Hemingway las seinen Roman "In einem fremden Land" in einer Loge an der Ziellinie eines Sechstagerennens in Paris Korrektur. Immer wieder plante er, Geschichten über diese Extremform des Radsports zu schreiben, kam jedoch zu dem Schluss: "Ich werde nie eine schreiben können, die so gut ist wie das Rennen selbst."

Egon Erwin Kisch
Ernest Hemingway
Bertold Brecht


1933 das Jahr der Machtübernahme durch die Nazis

Bezeichnenderweise mussten viele der deutschen Künstler und Schriftsteller, die sich am Sechstagerennen begeisterten, nach 1933 Deutschland verlassen.

 

Noch zu Beginn des Jahres 1933 waren Sechstage-Rennen ein beliebtes Freizeitvergnügen und wurden als solche gefeiert: Andererseits hatten alle Veranstaltungen außer denen in Berlin und Dortmund mit erheblichen wirtschaftlichen Schwierigkeiten zu kämpfen.

 

„Das Sechstagerennen in der Westfalenhalle [in Dortmund] steht geradezu als Ausnahmeerscheinung da, denn es hat in den letzten Jahren sowohl der Besetzung, als auch im finanziellen Erfolg das Berliner Sechstagerennen zumindest erreicht, wenn nicht gar überflügelt. [...] das Sechstagerennen ist ein sechstägiges Volksfest, das seit sieben Jahren einen hochwichtigen Faktor im Wirtschaftslebens Westdeutschlands darstellt.“ (13)



Und im Frühjahr 1933 musste ein Berliner Sechstage-Rennen wegen der Nationalsozialisten ausfallen: Die NSDAP benötigte den Sportpalast, der in den 1920er und 30er Jahren für zahlreiche politische Veranstaltungen genutzt wurde.

 

Der „Illustrierte Radrenn-Sport“ („lllus“) dazu: „Es gibt jetzt zu viele Sechstagerennen in Deutschland, eins jagt das andere, die Kommentare in der Presse über unliebsame Vorkommnisse bei einigen dieser großen Sportschauen waren auch nicht dazu angetan, die Massen in die Velodrome zu ziehen, die Aussagen Buschenhagens über Machenschaften in Paris, Bestrafungen prominenter Fahrer in Brüssel stießen doch manchen vor den Kopf und es fragt sich, ob nur die Zeit der wirtschaftlichen Not und das Rauchverbot die Ursachen für die Stuttgarter Sechstage-Pleite waren.“ (14)

 

Kurz danach musste in Breslau gar ein Sechstagerennen wegen mangelnden Zuspruchs mittendrin abgebrochen werden. Am ersten Abend: 300 Zuschauer in der Halle!. Der „Illus“ sah als Grund „dass dieses Sechstagerennen zu einer Zeit stattfand [...] in einer politisch hochbewegten Zeit, in einer Zeit des nationalen Erwachens der Nation, [...] die das ganze Interesse der Bevölkerung in Anspruch nimmt, alt und jung fesselt und beschäftigt. In einer solchen Ausnahmesituation, an solch geschichtlichen Tagen, wo eine begeisterte Kundgebung auf die andere folgt, soll ein Sechstagerennen stattfinden?“ (15)

 

Nach der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten am 30. Januar 1933 war eine tiefgreifende Umwälzung im deutschen Sport erfolgt.



rassisch gereinigte Leibesübungen

Sport, so wurde betont, sollte nicht dem Vergnügen des Einzelnen, sondern der „Volksgesundheit“ dienen. Der (englische) Begriff „Sport“ wurde vielfach ausgetauscht gegen die deutschen „Leibesübungen“. Und NS-Sportideologe Bruno Malitz schrieb: „Als der Liberalismus sich durchgesetzt hatte, durchdrang er alle Lebensgebiete; auch die Leibesübungen mußten ‚dem Zuge der Zeit‘ folgen. Aus ihnen erwuchs der Sport, der sie zu vernichten droht und der entweder zu offenem, ehrlichen Beruf oder zum Sportvarietè mit Rekordsucht und unehrlichem Geldstreben führte.“ Malitz wollte „das Geld aus dem Sport verbannen“, und dieser Sport sollte „rassisch gereinigt“ sein. Berufssportler seien „Sportartisten“, die man aus der Liste der Sportsleute streichen solle. (16)

 

Im „Illus“ wurde die neue Ideologie zunächst eher sanft gepredigt. Hinter den Kulissen wurden Journalisten, die dem deutschen Schriftleitergesetz nicht entsprachen, das heißt sie waren politisch nicht zuverlässig und nicht „arischer“ Abkunft, beseitigt – im leichtesten Fall gekündigt, im schlimmsten Fall kamen sie in Konzentrationslager.

 

Am 7. April 1933 ist im „Illus“, unter der Schlagzeile „Vor dem deutschen Einheitsverband“ zu lesen: „Jetzt müsse es doch endlich zu dem Einheitsverband kommen. [...] Die kleinen Verbändchen haben überhaupt keine Daseinsberechtigung!.“ (17) Die Gleichschaltung aller Radsport-Verbände erfolgte am 13. April 1933. Die „Bundeszeitung“ freute sich noch ganz harmlos über den „geeinten Sport“, ohne die weiterreichenden Folgen zu erahnen. (18)



Reichssportführer Hans von Tschammer und Osten

Reichssportführer Hans von Tschammer und Osten sah es als seine große Aufgabe an, diese zersplitterte Sportlandschaft Deutschlands zu Einheitsverbänden zusammenzufassen. Im Radsport, der in über 40 einzelnen Verbänden organisiert war, erledigte dies Reichsradsportführer Franz Ohrtmann. Er führte alle Verbände im Deutschen Radfahrer-Verband zusammen, der größte, der Arbeitersportverband „Solidarität“ mit rund 200 000 Mitgliedern, wurde sofort verboten. Profisport, und damit Sechstagerennen, waren den neuen Machthabern ein Dorn im Auge.

 

Die neuen Regeln für die Presse lauteten: „Als politisches Führungsmittel hat die Sportfachpresse die Aufgabe, die Leser einmal von der Nützlichkeit sportlicher Betätigung für sich selbst zu überzeugen. Dann muß sie den Leser überzeugen, dass die sportliche Betätigung für den Einzelnen nur im Rahmen der Gemeinschaft möglich. Weiter muß sie den Leser dazu erziehen, seine sportliche Tätigkeit als notwendig für die Volksgemeinschaft zu erkennen, seine sportliche Tätigkeit als Dienst an Volk und Staat zu empfinden.“ (19) Auch ein Personenkult um Sportstars wird abgelehnt, der gerade beim „Illus“ besonders ausgeprägt sei, und der Radsport sei einer der Sportarten, „in denen das Startum besonders schwer auszurotten ist [...]“. (20)

 

In diesen Tagen schrieb Fredy Budzinski: „[Alle] denken [...] darüber nach, wie man das Sechstage-Rennen durch einen großen Gedanken wieder emporreißen kann.“ (21) Wenig später musste Budzinski die Redaktion der „Bundeszeitung“, dem Organ des deutschen Radsport-Verbandes, verlassen, da er mit einer jüdischen Frau verheiratet war.

 

Am 23. November schrieb der Journalist Herbert Obscherningkat in der nationalsozialistischen Zeitung „Der Angriff“: „Gewiß würden nicht Tausende in einer Woche in den Sportpalast strömen, wenn nicht seit Jahren für die Durchführung von Sechstagerennen die Reklametrommel gerührt worden wäre. […] Wer einen Blick hinter die Kulissen werfen durfte, weiß, dass es in erster Linie Juden waren, die als Veranstalter auftraten. In der Zeit der größten jüdischen Machtausbreitung standen in Deutschland die Sechstagerennen am höchsten im Kurs.“ (22)

 

Diese Aussage ist – neben ihrer Absurdität – schlicht unwahr. Die Organisatoren in Breslau etwa waren die Rennfahrer Paul Kroll und Werner Miethe, der später für die Gestapo gearbeitet haben soll, in Dortmund und Frankfurt Paul Schwarz und in München Matze Knaak, die alle keine Juden waren. Die einzige Verbindung der genannten Art, die ich finden konnte, bildete der Besitzer der Sporthalle, Jakob Schapiro, ein jüdischer Aktienspekulant, der diese aber verpachtet und mit den Veranstaltungen nichts zu tun hatte.



rein wirtschaftliche Interessen

Reichsradsportführer Franz Ohrtmann

Den erwähnten „großen Gedanken“ indes hatte der neue Reichsradsportführer Franz Ohrtmann. Dieser schrie am 11. Dezember 1933 an den Reichssportführer Hans von Tschammer und Osten. Zunächst betonte Ohrtmann seine Verdienste um die Gleichschaltung des Radsportes, bis er zum eigentlichen Kern der Sache kam. Ohrtmann war zwar schon Nationalsozialist seit 1925, aber als ehemaliger Chef verschiedener Veranstaltungshallen auch gewiefter Veranstalter, deshalb kann es nicht in seinem Interesse gelegen haben, auf Sechstagerennen zu verzichten.

 

Er plane, so Ohrtmann, berufssportliche Veranstaltungen auf Radrennbahnen auszubauen, „denn ich will erreichen, dass künftig die Sechstagerennen nicht mehr nötig sind. In der jetzigen Saison waren und sind sie, soweit sie noch angemeldet sind (Dortmund und Berlin) aus rein wirtschaftlichen Interessen […] noch nicht zu entbehren“. (23)



In der Folge beschrieb Ohrtmann mit wachsender Begeisterung, wie wichtig der Berufssport – insbesondere beim Radsport – für die Finanzierung des Amateursports sei, vor allem für die der Hallen, die zumeist in öffentlicher Hand seien, und plädierte letztlich für die Beibehaltung der Sechstagerennen. „Es scheint daher nicht zweckmässig, zunächst die Sechstagerennen fallen zu lassen, wenn man international die deutschen Berufsfahrer überhaupt aus Wettbewerben ausschließen will.“

 

Und er ging noch weiter: „Vergessen darf auch nicht werden, das ein langes Rennen in der Art der Sechstagerennen von Wert für die Industrie ist […].“ Zudem wies er auf den Verdienstausfall für „viele deutsche Volksgenossen“ hin sowie auf die Folgen für den Fremdenverkehr in den verschiedenen Städten und belegte dies mit vielen Zahlen. „Aufzeichnungen der Westfalenhalle [in Dortmund] beispielsweise ergeben, dass bei den 40, 50, 60, 70 oder 80 000 Besuchern eines Sechstagerennens bei zu 80% der Besuchermassen Auswärtige und Ausländer sind.“ Auch seien die Rennen nicht, wie in der Ablehnung begründet, gesundheitsschädlich für die Fahrer, „die Strapazen bei Straßenrennen“ sogar „körperlich und seelisch grösser als bei der Durchführung eines Sechstagerennens“.



Redakteur Paul Beving von der Brüsseler Zeitung "Les Sports" im Januar 1932 (Illus 12. Jahrgang 1932), Zitat

Um ein Verbot von Sechstagerennen zu umgehen, schlug Ohrtmann deshalb neue Regeln vor, wie etwa den Wegfall von Antrittsgagen und Trikotwerbung, eine Neutralisation mit Ruhephase am Vormittag sowie Preisgelder für Platzierungen an den einzelnen Tagen.

 

Ohrtmanns Argumente scheinen gegriffen zu haben: Die beiden Sechstagerennen in Dortmund und Berlin fanden statt – vielleicht von Seiten des Reichsradsportführers in der stillen Hoffnung, Sechstagerennen nach seinen neuen Regeln ganz erhalten zu können. Knapp zwei Wochen später konnte der „Illus“ vermelden: „Vom Deutschen Radfahrer-Verband ging uns die nachstehende Mitteilung über die Neuordnung der Sechstagerennen zu: Die bereits für die Rennzeit 1933/34 genehmigten Sechstagerennen kommen mit Rücksicht auf ihre wirtschaftliche Bedeutung zur Durchführung.“ (24)

 

Die neue Verbandszeitung „Der deutsche Radfahrer“ schrieb: „Die deutsche Revolution und die damit verbundene Neugliederung im deutschen Sportwesen hat auch nicht vor den Sechstagerennen haltgemacht. Der Dortmunder Westfalenhalle, die bereits nach alter Methode acht Sechstagerennen durchgeführt hat, ist es vorbehalten, die Sechstagereform als erste Wintersportstätte Deutschlands zur Anwendung zu bringen. Eine Zeitlang bestand die Gefahr, daß Sechstagerennen in Deutschland verboten werden; aber das Reichsinnenministerium konnte sich den Beweisgründen des D.R.V. für die Sechstagerennen nicht verschließen.“ (25)



geringe Attraktivität

Das Dortmunder Rennen war noch recht gut besucht, das Berliner allerdings endete im totalen Fiasko: Es fand sozusagen vor leeren Tribünenin der Halle statt. Die Stars, insbesondere die ausländischen, die bis dahin je nach Attraktivität weitaus höhere Antrittsgagen erhalten hatten, waren nicht bereit gewesen, zu den neuen Konditionen zu starten. An einem Rennen mit mittelmäßigen Rennfahrern hatten die Zuschauer jedoch kein Interesse. Zudem fehlte ihnen der Kitzel des „Rund-um-die-Uhr-Fahrens“, das sie ja gerade so fasziniert hatte.



Siegfried Translateur, Komponist des „Sportpalastwalzers“

Und es wird ihnen der schmissige „Sportpalastwalzer“ gefehlt haben, dessen Aufspielen wegen seines jüdischen Komponisten Siegfried Translateur verboten war.

 

Der Veranstalter des letzten Berliner Sechstagerennens vor dem Krieg, Direktor Hoppe, erklärte in einem Interview, „der Misserfolg des letzten Berliner Sechstagerennens, der ihn über 30 000 Mark gekostet hat, sei in der Hauptsache auf das neue in Dortmund und nun auch in Berlin zur Anwendung gebrachte Sechstagereglement zurückzuführen, das wohl gut gemeint sei, aber sich in seiner Auswirkung als völlig verfehlt erwiesen habe“. (26) Vorbedingung für die Veranstaltung eines Sechstage-Rennens sei für ihn, „daß mit dem jetzigen Reglement aufgeräumt werde“. Zudem erklärte er die Absicht, „nach Antwerpener Muster im Innenraum Tanz- und sonstige Attraktionen“ zu veranstalten. Hoppe scheint ahnungslos gewesen zu sein, was das Nachdenken über ein Verbot betraf.

 

Vor Beginn des Rennens hatte die Vossische Zeitung geschrieben: „Viele haben sich gewundert, dass dies Berliner Jubiläums-Sechstagerennen überhaupt zustande gekommen ist. Denn als damals, nach der großen Staatsumwälzung, bei der Erneuerung des ganzen Sportbetriebs ‚an Haupt und Gliedern‘ auch im Radsport aufgeräumt wurde, gab es ein allgemeines Unken, was nun alles verboten und abgeschafft werden würde. Vor allem natürlich das Sechstagerennen, dieses seltsame, fragwürdige Zwitterding zwischen Sport und Varieté, mit dem Makel mancher Schiebung, manchen Skandals belastet […].“ (27)

 

Nach dem Fiasko resümierte die Zeitung unter der Überschrift „Endgültig überlebt!“: „[Das Sechstagerennen] hat den Beweis dafür geliefert, dass die 145-Stunden-Rennen auf rein sportlicher Basis kaum zu halten sind, dass sie in Deutschland künftighin wahrscheinlich überhaupt nichts mehr zu suchen haben – weder nach ‚neuen‘ noch nach ‚alten‘ Bestimmungen!“ Fazit: „Die Zeit der Sechstage ist zu Ende! Sie paßten am besten in die Zeit der Inflation, sie paßten noch in die Zeit der „Konjunktur“ vor fünf Jahren, sie paßten in das vergangene Deutschland, in der der Sport keine Aufgabe, keine Sendung hatte, wo es nahelag, ihn jährlich zweimal eine Woche lang zu einem wilden Tohuwabohu zu mißbrauchen, bei dem Zehntausende sich austoben und Launen befriedigen konnten, die in normalen bürgerlichen Verhältnissen unerfüllbar waren.“ (28)

 

So wurden Sechstagerennen letztlich in Deutschland still und heimlich zu Grabe getragen. Ein ausgesprochenes Verbot lässt sich indes nicht belegen, auch findet sich kein Erlass diesen Inhalts in den Gesetzblättern von 1933 und 1934. Ungeklärt muss allerdings die Frage bleiben, ob bei Erfolg der neuen Regelung Sechstagerennen nicht trotzdem offiziell verboten worden wären.



Tod und Vergessen

Im Berliner Sportpalast fanden weiterhin Sport-Veranstaltungen statt wie Eislaufen, Eishockey oder Boxen aber auch solche wie „Das Große Lehrlings-Schaufrisieren“. Breiten Raum nahmen die politischen Veranstaltungen ein, die natürlich jetzt nur noch von der NSDAP durchgeführt wurden. Schauriger Höhepunkt war die Rede von Propagandaminister Joseph Goebbels am 18. Februar 1943 mit der Frage „Wollt Ihr den totalen Krieg?“ – die sogenannte „Sportpalastrede“.

Propagandaminister Joseph Goebbels
am 18. 2. 1943
im Berliner Sportpalast:
„Wollt Ihr den totalen Krieg?“


Translateur, der Komponist des „Sportpalastwalzers“ starb ein Jahr später im KZ Theresienstadt. Franz „Ferry“ Ohrtmann indessen, der Reichsradsportführer, war nach dem Krieg bis in die 60er Jahre ohne Einschränkung als Chef der Deutschlandhalle tätig, nachdem ihm der Rektor der Deutschen Sporthochschule, Carl Diem, bestätigt hatte, der Reichsradsportführer Ohrtmann habe sich während der Nazi-Zeit nicht politisch betätigt.

 

Doch eine von Ohrtmanns Sechstage-Regeln setzte sich mit den Jahren nach und nach durch: Die durchaus vernünftige Regelung, das Sechstagerennen vormittags aussetzen zu lassen, damit die Rennfahrer schlafen konnten. Heute beginnen die Rennen erst abends und sind in viele kleine Einzelwettbewerbe aufgeteilt, gegen 2 oder 3 Uhr ist Feierabend.

 

In den beiden Mutterländern des Sechstage-Rennens, Großbritannien und den USA, gibt es allerdings schon seit Jahrzehnten keine Sechstage-Rennen mehr - leider.



Quellen:

(1) Hajo Bernett, „Die nationalsozialistische Sportführung und der Berufssport“, in: Sozial- und Zeitgeschichte des Sport, Heft 1/1990, S. 13; Werner Gronen/Walter Lemke, Geschichte des Radsports und des Fahrrades, Eupen 1978, S. 305; Gerd Rensmann, 6-Tage-Rennen, Mülheim/Ruhr 1984, o.S.

(2) Peter Joffre Nye et. al., The six-day bicycle races. San Francisco 2006, S. 24.

(3) Fredy Budzinski, Sechs Tage auf dem Rade, Berlin [1928], S. 8

(4) Rad-Welt, 18. Dezember 1907.

(5) Adolph Schulze, Der Radrennsport im Jahre 1909, in: Sport-Album der Rad-Welt, 8. Jg., 1909, S. 3.

(6) Fredy Budzinski, Das Berliner Sechstage-Rennen in Wort und Bild, Berlin o.J. (ca. 1919), S. 50.

(7) Bertolt Brecht, Gesammelte Werke in 20 Bänden, Frankfurt am Main 1967, Bd. 20, S. 28.

(8) Rolf Nürnberg, Radsport, in: Der Sieg. Ein Buch vom Sport. Hrsg. v. Günter Mamlok und Sergius Sax. München/Berlin 1932, S. 238.

(9) Swantje Scharenberg, Swantje; Veröffentlichte Leistung – Zur Sportberichterstattung in der Weimarer Zeit, in: Nobert Gissel, Norbert (Hrsg.), Sportliche Leistung im Wandel. Jahrestagung der Dvs-Sektion Sportgeschichte vom 22. – 24.9.1997 in Bayreuth, Hamburg 1998, S. 106.

(10) Willy Meisl, Der Sport am Scheidewege. Heidelberg 1928, S. 16.

(11) Ebd., S. 92.

(12) Curt Riess, Das war mein Leben! Erinnerungen. Frankfurt/Berlin 1990, S. 120f.

(13) Illustrierter Radrenn-Sport, 6. Januar 1933.

(14) Illustrierter Radrenn-Sport, 10. März 1933.

(15) Illustrierter Radrenn-Sport, 24. März 1933.

(16) Bruno Malitz, Die Leibesübungen in der nationalsozialistischen Idee, München 1934, S. 27f.

(17) Illustrierter Rad-Rennsport, 7. April 1933.

(18) Bundeszeitung, 1. Mai 1933.

(19) Rolf-Harald Göpel, Die deutschen Sportfachpresse 1932-1934, Diss. Universität Leipzig, 1937, S. 31.

(20) Ebenda., S. 42.

(21) Bundeszeitung, 1. April 1933.

(22) Der Angriff, 23. November 1933.

(23) Brief von Reichsradsportführer Franz Ohrtmann an Reichssportführer Hans von Tschammer und Osten vom 11. Dezember 1933, Archiv Fredy Budzinski in der Zentralbibliothek der Sportwissenschaften der Deutschen Sporthochschule Köln, Nr. 94.

(24) Illustrierter Rad-Rennsport, 22. Dezember 1933.

(25) Der deutsche Radfahrer, 10. Januar 1934

(26) Illustrierter Rad-Rennsport, 30. März 1934.

(27) Vossische Zeitung, 10. März 1934.

(28) Vossische Zeitung, 18. März 1934.


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