Sehr früh ging es bei der 96er Ausgabe der Frankreich-Rundfahrt zur Sache: Bereits nach einer Woche Einrollen im Flachen stand die erste Alpenetappe über Col de la Madeleine, Cormet de Roselend sowie dem Schlussanstieg ins 1700m hoch gelegene Les Arcs auf dem Programm. Es sollte ein Desaster für „el rey“, den ungekrönten König der Tour de France werden. Schlechtes Wetter, Nebel und Regen, sorgten für zusätzlichen Zündstoff und Spannung. Der bisherige Träger des Gelben Trikots, der Franzose Stéphane Heulot, stieg tränenüberströmt am Cormet de Roselend vom Rad – anhaltende Knieschmerzen waren der Grund. Bereits am ersten Pass, dem Madeleine, verabschiedete sich mit Laurent Jalabert der erste Favorit aus der Spitzengruppe und damit aus dem Kreise der Anwärter auf eine vordere Platzierung im Gesamtklassement: Er fiel ab und damit aussichtslos zurück. Seinem Teamkollegen Alex Zülle erging es kaum besser: Mehrere Stürze demoralisierten den Schweizer, der damit einmal mehr seinem zweifelhaften Image als Bruchpilot ungewollt Nahrung verschaffte.
Vor dem Schlussanstieg hatte sich eine größere Gruppe mit gut einem Dutzend Fahrer gebildet, die dem führenden Deutschen Udo Bölts dicht auf den Fersen war: Bis auf Jalabert waren alle Favoriten darin vertreten. Viele Fahrer hatten gar mehrere Teamkollegen noch auf ihrer Seite: Festina war mit Virenque und Dufaux ebenso doppelt vertreten wie Telekom mit Riis und dem sensationell fahrenden ehemaligen Amateur-Weltmeister Jan Ullrich. Mapei hatte gar drei Fahrer (Rominger, Olano und den spanischen Meister Manuel Fernandez Gines) dabei. Ein sturz-geschädigter Alex Zülle besaß mit Aitor Garmendia noch einen Mann an seiner Seite. Nur Miguel Indurain war alleine: Kein Gérard Rue oder Jean-Francois Bernard, die ihn in den vergangen Jahren bis zum letzten Schweißtropfen unterstützen konnten. Unbedenklich angesichts der Stärke des fünffachen Tour-Siegers, dachten alle…
Doch es sollte anders kommen – Indurain erlebte auf den letzten vier Kilometern seinen Offenbarungseid: Ein Hungerast, wie sich später herausstellte, aber auch Formschwäche, was in den nächsten Etappen zweifelsfrei zu konstatieren war, sorgten für das Ende einer Ära.
Während Luc Leblanc nach einer unwiderstehlichen Attacke aus der Spitzengruppe dem Ziel auf Wolke Sieben schwebend entgegeneilte, die vorausfahrenden Bölts und Dufaux ein- und überholte und sich damit den Etappensieg sichern konnte, spielten sich hinter der Gruppe um Riis, Ullrich, Rominger und Co. wahre Dramen ab. Ein gehandicapter Alex Zülle hatte Mühe, überhaupt das Tempo seines Leutnats Garmendia zu halten. Dieses Tempo war aber immer noch höher als jenes von Miguel Indurain, der völlig geschwächt dem Ziel entgegenkrebste und auf den letzten drei Kilometern 4:19 Min auf Luc Leblanc und wiederum über 3 Min auf die Riis-Gruppe einbüßte.
Zu allem Überfluss bekam er im Nachhinein noch 20 Strafsekunden aufgebrummt, da er in seiner Not noch eine Trinkflasche vom sportlichen Leiter des Berzin-Teams annahm.
An diesem 06. Juli 1996 wurde Miguel Indurain vom Thron gestürzt. Tage später in den Pyrenäen sollte es noch dicker kommen: Besonders der Tag nach Pamplona im Baskenland, wo die Tour-Karawane mit dem Dänen Bjarne Riis im Gelben Trikot am Heimatdorf von Indurain vorbeifuhr, war besonders bitter für ihn: Er verlor nochmals acht Minuten und fiel damit sogar aus den Top Ten der Gesamtwertung heraus. Doch auch in der Niederlage zeigte der Spanier Größe: Anerkennend reckte er bei der Siegerehrung, zu der er gerufen wurde, Riis’ Arm als Zeichen des verdienten Siegers zum Himmel.