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Das erste Berliner Sechstagerennen 1909



Das erste Berliner Sechstagerennen 1909

 

>>> Allgemein: Das erste Berliner Sechstagerennen 1909

Fredy Budzinski: Das erste Berliner Sechstagerennen, ein Originalbericht:

>>> Vor und hinter den Kulissen

>>> Portrait Fredy Budzinski



Vor und hinter den Kulissen, Teil 1 und 2

Ernstes und Heiteres vom Berliner Sechstagerennen

von Fredy Budzinski



Neugierde und Wissbegierde sind ebenso weit von einander entfernt, wie das Erhabene vom Lächerlichen, nämlich nur einen Schritt. Aber die Neugierde ist bei weitem nicht das schlimmste Laster der Menschen, und wenn man sie befriedigt, tut man ein gutes Werk. Ein Blick hinter die Kulissen ist immer interessant, und da wir beim Sechstagerennen hinter die Kulissen gesehen haben, wollen wir das Gesehene, Gehörte und Vermutete, aber nicht eingetroffene wiederzugeben versuchen.

 

Die erste Nachricht vom Berliner Sechstagerennen kam aus dem Restaurant des ehemaligen Rennfahrers Andreas Hansen, denn beim Wein hatte der Vater des Gedankens, der frühere Leiter der Friedenauer Bahn, Georg Hölscher, das Geheimnis preisgegeben, und wie ein Lauffeuer verbreitete sich die Nachricht.

 

„Wissen Sie schon das Neueste?“ „Nein“ „Wir kriegen ein Sechstagerennen in Berlin.“

 

Tagtäglich konnte man dieses Zwiegespräch in Berlin hören, und als die „Rad-Welt“ darüber berichtete, gab es eine große Aufregung, denn die Plötzlichkeit, mit der das Ereignis hervortrat, verblüffte alle Sportsfreunde. Noch verblüffter aber waren die Rennfahrer. Sie hatten sich schon zur Winterrast bereit gemacht, als die Bombe platze. Mit frischem Mut gingen sie in das neue Jahr, das ihnen zum ersten Male ein Sechstagerennen vorführen sollte, hinein.



 

Während sich die Sportsfreunde vor Ungeduld kaum zu beherrschen vermochten, wurde in der großen Halle am Zoo gehämmert und gesägt. Das kaum geglaubte wurde Wirklichkeit, und mit dem Wachsen der Bahn wuchs das Verlangen der Rennfahrer nach Vorschuss. Tagtäglich wurde ihnen etwas vorgeschossen, da nicht nur die kleinen, sondern auch die großen „Kanonen“ ihr Pulver angesichts des grossens Rennens leichtsinniger verschossen hatten, als dies sonst im Winter üblich war.

 

Auf den Grunewald-Chausseen konnte man im Februar 1909 allmorgendlich vermummte Gestalten auf dem Rade sehen. Die Kälte und das durch die Winterruhe angesetzte Fett machten die Vermummung notwendig und der Gedanke an eine schmächliche Niederlage durch die Ausländer trieb die deutschen Rennfahrer immer mehr an. Als sich Stol dem Training anschloss, zeigte er den Fahrern, was eine Harke ist, und mit nicht sehr hochgeschraubten Hoffnungen sahen die deutschen Fahrer dem Sechstagerennen entgegen.

 

„Menschenskind, det wird ne Nummer. Sechst Dage eenjal weg piddeln und nich schlafen, na ick schnappe,“ sagte ein bekannter Berliner Rennfahrer eines Tages zu seinen Genossen.

Ein stummes Kopfnicken war die Antwort, aber gerade die Stille dieser Antwort liess erkennen, wie sehr den Fahrern der Herzensausbruch des Berliners nahe gegangen war.

 

Am Stammtisch der Rennfahrer im Café Josty wurde täglich beraten, wie man das Rennen bestreiten müsse. Das Unmöglichste wurde aufs Tapet gebracht und einer wollte immer klüger sein, als der andere. Stol ging schwer aus der Reserve heraus, und als einige Grusskarten aus Berlin meine Tätigkeit in der Bank von Monte Carlo durch die flehentliche Bitte störten, den Rennfahrern mit Rat und Tat zur Seite zustehen, entschloss ich mich, nach Paris zu reisen und Walter Rütt über das Sechstagerennen zu interviewen.

 

Aus der Hitze der Riviera kam ich in die Kälte des Seine-Babels und aus dem dolce far niente in die altgewohnte Tätigkeit des Sportschriftstellers. Im Rennfahrer-Café, gegenüber der nun verflossenen Winterbahn, traf ich Rütt und seine Gattin und nach einer freudigen Begrüßung rückte ich mit meinem Anliegen heraus. Gern machte Rütt sich an die Arbeit; mit Ratschlägen reich beladen, kehrte ich nach Berlin zurück, und in dem Artikel: „Sechs Tage auf dem Rade“ gab ich das von Rütt Gehörte in der „Rad-Welt“ zum besten.

 

Der Tag des Sechstage-Starts rückte immer näher. Pawke und Carapezzi waren kampfunfähig, aber während sich der Berliner wieder erholte und als Ersatzmann zur Verfügung stand, musste der Italiener auf die Teilnahme verzichten.



Jacquelin's Schwingenflieger

Trotz der schweren Sorgen um das Abschneiden in dem grossen Rennen verliess die Rennfahrer ihr Humor nicht. Im Kabinenhof herrschte ein fröhliches Leben und Treiben, und wenn auch vieles Galgenhumor war, so belustigte es doch. Der „grosse Jacquelin“, dem es an freiwilligem Humor nie fehlt, machte sich, wie immer, wenig Sorgen. Er hatte schon ein Sechstagerennen mitgefahren und wusste, was ihm bevorstand. Sein ganzes Interesse wandte er aus diesem Grunde seinem Schwingenflieger zu, der im Kabinenhof aufgestellt war und dessen Funktion der Weltmeister jedem, der sie sehen oder nicht sehen wollte, mit Hilfe eines kleinen Elektromotors vorführte.

 

„Det Dings ist jut, um die frischgebacknen Schrippen abzukühln, aber fliegen wird der Boulanschee woll nich damit. Fliejen wird er bloss beit Sechsdagerennen mitn Bogen vons Rad mang det Publikum,“ sagte eines Tages ein Rennfahrer, als Jacquelin, der Bäckerjunge von Santenay, die Schwingen seines Modells in Tätigkeit setzte.

 



Die eintreffenden ausländischen Rennfahrer erregten die Aufmerksamkeit der deutschen Fahrer ungemein. Sie umschlichen die Maschinen und versuchten allerhand Wissenswertes zu ergründen und zu ihrem Vorteil zu verwenden. Im übrigen ging es ziemlich geheimnisvoll auf dem Kabinenhof zu, denn niemand verriet etwas über das Rennen und über die Urheber der Inschriften, die an den Kabinentüren erschienen. An der Kabine des Berliners Oskar Peter erschien eines Tages ein grosses Plakat mit der Aufschrift: „Consul Peter“, und an der Kabine Halls wurde ein Bild des radfahrenden Affen mit er Unterschrift: „Mein Partner im Sechstagerennen, Tommy Hall“ angeheftet. Arend musste sich verschiedene Anspielungen auf seine Sektvertretung gefallen lassen, und auch Robl blieb nicht ungeschoren.

 

Die innere Ausstattung der Kabinen durch alle möglichen und unmöglichen Gegenstände wurde gleichfalls alle Tage herrlicher, und auf musikalische Genüsse wurde durch den ehemaligen Treptower Rennfahrer Weber, der zur Mandoline das ergreifende Lied mit dem Refrain:

Und erstach ihr in die Ader,

Dass das Blut in Strömen floss

sang, gesorgt. Jeden Tag wurde ein neues Programm für das Mandolinenkonzert herausgegeben und während das Programm des einen Tages mit dem Teil: „Steinigung des Mandolinisten“ schloss, wurde am nächsten Tage das Konzert wegen „saitlicher Erkrankung der Mandoline und Unpässlichkeit des Spielers“ abgesagt.



 

Die grösste Sorge machte den Rennfahrern die Verpflegung. Dieser Sorge sollten sie aber bald überhoben werden, denn die Veranstalter erklärten sich bereit, die Kosten zu bestreiten und in der Küche der Ausstellungshallen alles bereit halten zu lassen.  Damit errangen sie den Beifall aller Fahrer, mussten aber die Erfahrung machen, das die Küchenrechnung schon vor Beginn des Rennens mehr als 800 Mark betrug.

 

Böse Zungen behaupten, dass die Manager mit Kinderwagen vorgefahren seien und sich für ein ganzes Jahr verproviantiert hätten, aber wer den Appetit unserer Rennfahrer kennt, wird für die hohe Küchenrechnung auch eine andere Erklärung finden.

 

Zu der Küche hatten die Fahrer Vertrauen, aber zu den Managern nicht, sie fürchteten, dass ihnen das Doping als unbemerkte Beigabe zum Dejeuner, Diner oder Souper gereicht werden könnte. Rütt hatte zwar davor gewarnt, aber der Teufel traue dem Apotheker. Der Berliner Techmer hatte eine besondere Angst und nahm sich vor, nur von dem mitgebrachten Essen zu leben. Das Vertrauen Techmers auf ein Durchfahren des Rennens war sehr gering, und es erregte grosse Heiterkeit, als Techmer erklärte:



“Ich habe sechs Schrippen, eene Pulle mit Milch und zwei Pfund Weintrauben mitjebracht. Ick fahre los und wenn det alle is, denn heere ick uff.“

 

Andere Rennfahrer dachten weniger über die Proviantfrage nach und gingen wohl mit Herzklopfen, aber guten Mutes in das lange Rennen. Arend traf wie immer erst kurz vor dem Start ein, zog sich schnell um und kam auf die Bahn, vom Publikum stürmisch begrüßt.

 

Das Rennen ging los. Die Fahrer purzelten übereinander, die Glocke ertönte und die Partner sprangen ein. Bald waren alle im Rennen gewesen und hatten einen kleinen Vorgeschmack bekommen. Während sich das Publikum auf der Bahn an dem Anblick der bunten Schar ergötzte und die Spurts mit lautem Geschrei begleitete, ging es hinter den Kulissen sehr lebhaft zu. Die Strapazen des Rennens machten sich bei vielen Fahrern bemerkbar und die ärztliche Hilfe musste in Anspruch genommen werden.

 

Am zweiten Tage brachte man einen Halbtoten heraus. Es war Poulain, der sich überanstrengt hatte und dringend der Ruhe bedurfte. Der Franzose wurde gefüttert und sollte dann ins Bad gebracht werden, brach aber an der Wanne vor Erschöpfung zusammen. Durch Sauerstoff-Inhalationen brachte man ihn wieder auf die Beine, und nachdem er zwei Stunden geruht hatte, nahm er das Rennen mit einer Frische wieder auf, als sei er niemals schlapp gewesen.

 

Ein anhänglicher Gast des Sauerstoff-Kabinetts war auch Willy Arend, von dem ein bekannter Rennfahrer behauptete, er hätte überhaupt nur von Sekt und Sauerstoff gelebt. Die Sauerstoff-Inhalationen taten den Fahrern sehr gut und viele, die mit dem festen Entschlusse, das Rennen aufzugeben, in das Kabinett gekommen waren, verliessen es mit frischem Mut.

 




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